Leitsatz
1. Das Leistungsmerkmal "eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden" setzt voraus, dass die betreffenden Lieferungen bzw. Dienstleistungen jedenfalls für die der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unterfallenden Umsätze unerlässlich sind.
2. Dienstleistungen, die die Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit betreffen, müssen nicht unmittelbar an die pflegebedürftigen Personen erbracht werden, um als eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden angesehen werden zu können (Änderung der Rechtsprechung).
3. Die Anerkennung eines Gutachters als Einrichtung mit sozialem Charakter folgt nicht aus einer bloß mittelbaren Erstattung der Kosten für die Gutachtertätigkeit über den MDK, ohne dass dies auf einer expliziten Entscheidung der Pflegekasse beruht oder der Gutachter die Möglichkeit genutzt hätte, in Bezug auf diese Tätigkeit mit der Pflegekasse einen entsprechenden Vertrag zu schließen (Änderung der Rechtsprechung).
Normenkette
§ 4 Nr. 14, 15, 15a und 16 UStG 2009, Art. 132 Abs. 1 Buchst. g EGRL 112/2006 (= MwStSystRL)
Sachverhalt
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine ausgebildete Krankenschwester und Lehrerin für Pflege, erstellte in den Jahren 2012 bis 2014 (Streitjahre) für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Gutachten zur Pflegebedürftigkeit von Patienten. Die Leistungen rechnete der MDK monatlich ihr gegenüber ab, wobei er keine USt auswies.
Die Klägerin sah die Umsätze aus der Gutachtertätigkeit als steuerfrei an, nahm jedoch den Vorsteuerabzug aus allen Eingangsleistungen ungekürzt in Anspruch. Der Beklagte und Revisionskläger (FA) sah die Gutachtertätigkeit als umsatzsteuerpflichtig an.
Das FG (Niedersächsisches FG, Urteil vom 9.6.2016, 11 K 15/16, Haufe-Index 11197810) nahm an, die Erstellung von Pflegegutachten sei als "eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Leistung" unter unmittelbarer Berufung auf das Unionsrecht steuerfrei.
Im Laufe des vom FA angestrengten Revisionsverfahrens ist für das Jahr 2014 ein USt-Jahresbescheid ergangen.
Entscheidung
Der BFH hob die Vorentscheidung auf. Für zwei Streitjahre wies er die Klage aufgrund der Vorabentscheidung des EuGH ab. Für das Streitjahr 2014 verwies er den Rechtsstreit an das FG zurück, damit dieses die Höhe der festgesetzten USt prüfen kann.
Hinweis
1. Nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL befreien die Mitgliedstaaten "eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden" von der USt.
2. Der BFH hatte dazu mit Vorlagebeschluss vom 10.4.2019, XI R 11/17 (BFH/NV 2019, 1319, BFH/PR 2019, 327) den EuGH befragt, ob
- die Erstellung von Gutachten über die Pflegbedürftigkeit einer Person ein eng mit der sozialen Sicherheit oder Sozialfürsorge verbundener Umsatz ist, und
- eine (nur) vom MDK beauftragte Gutachterin eine vom Mitgliedstaat Deutschland anerkannte Einrichtung ist.
3. Der EuGH hat mit Urteil vom 8.10.2020, C-657/19, Finanzamt D (Haufe-Index 14174280, BFH/NV 2021, 174) zwar die Frage 1 bejaht, aber die Frage 2 verneint. Für eine Anerkennung reicht es nicht aus, dass ein zugelassener Leistungserbringer (hier: der MDK) von sich aus einen Subunternehmer beauftragt. Sonst könnte quasi er das dem Mitgliedstaat eingeräumte Ermessen zur Anerkennung ausüben. Vielmehr muss nach Auffassung des EuGH die Pflegekasse eine explizite Entscheidung über die Anerkennung treffen oder es muss zwischen ihr und dem betreffenden Steuerpflichtigen ein Vertrag über die Erbringung der betreffenden Leistungen abgeschlossen werden.
4. Der BFH hat mit dem Besprechungsurteil seine Rechtsprechung an diese Sichtweise des EuGH angepasst. Subunternehmer und Kostenträger sollten daher darauf achten, dass Subunternehmer zukünftig entweder unmittelbar vom Kostenträger als Leistungserbringer zugelassen werden oder unmittelbar mit dem Kostenträger einen Vertrag über die Leistungserbringung abschließen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 24.2.2021 – XI R 30/20 (XI R 11/17)