Leitsatz
1. Der in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebende Elternteil kann gegenüber dem im Inland lebenden Elternteil nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorrangig kindergeldberechtigt sein, wenn er sein Kind dort in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH-Urteil vom 4. Februar 2016, III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).
2. Die nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorzunehmende Fiktion bewirkt, dass die Wohnsituation auf Grundlage der im Streitzeitraum im anderen EU-Mitgliedstaat gegebenen Verhältnisse (fiktiv) ins Inland übertragen wird.
3. Dem steht nicht entgegen, dass das Kindergeld Teil des Familienleistungsausgleichs (§ 31 EStG) ist.
Normenkette
§ 64 Abs. 1, § 64 Abs. 2 Satz 1, § 31 Satz 1 EStG, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j, Art. 67, Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Sätze 2 und 3 VO (EG) Nr. 987/2009
Sachverhalt
Der im Inland lebende Kläger ist der leibliche Vater der Kinder A und B. Die Kindesmutter, zyprische Staatsangehörige, lebt mit A und B in der Republik Zypern (Zypern) und hat diese dort in ihren Haushalt aufgenommen.
Die Familienkasse zahlte dem Kläger zunächst Kindergeld für A und B, hob diese Festsetzung aber später auf. Der Einspruch blieb erfolglos. Das FG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 27.6.2012, 2 K 1224/12, Haufe-Index 3267628) gab der Klage statt, weil die Kindesmutter im Inland nicht selbst kindergeldberechtigt sei.
Entscheidung
Der BFH hob aus den in den Praxis-Hinweisen genannten Gründen die Vorentscheidung auf und wies die Klage ab.
Hinweis
Mit dem Besprechungsurteil schließt sich der XI. Senat des BFH der neueren Rechtsprechung des III. Senats des BFH (Urteil vom 4.2.2016, III R 17/13, BFH/NV 2016, 1213; s. dazu Görke, BFH/PR 2016, 276) in vollem Umfang an.
1. Kernfrage des Urteils ist, ob und unter welchen Voraussetzungen in einem Fall, in dem ein Kind im EU-Ausland beim anderen Elternteil lebt, dem im Inland lebenden Elternteil Kindergeld zusteht.
2. Der in Deutschland lebende Elternteil eines Kindes hat grundsätzlich Anspruch auf Kindergeld auch für ein Kind, das einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der EU (oder des EWR oder der Schweiz) hat (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG). Der im Ausland lebende andere Elternteil ist nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG an sich nicht kindergeldberechtigt, weil er weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Deshalb kommt bei isolierter Betrachtung des nationalen Rechts an sich nicht die Grundregel des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG zur Anwendung, dass das Kindergeld dem Elternteil zusteht, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.
3. Hier kann jedoch, wie der EuGH in der Rechtssache Trapkowski (EuGH-Urteil vom 22.10.2015, C–378/14, Trapkowski, EU:C:2015:720, BFH/NV 2015, 1789) klargestellt hat, das Unionsrecht eingreifen: Lebt das Kind zusammen mit dem anderen (freizügigkeitsberechtigten) Elternteil in einem anderen EU-Mitgliedstaat, wird für den anderen Elternteil und das Kind seit dem 1.5.2010 ein inländischer Wohnsitz fingiert. Dies ergibt sich aus der VO (EG) Nr. 883/2004 (Grundverordnung) sowie Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der dazu ergangenen Durchführungsverordnung Nr. 987/2009.
Infolge der Wohnsitzfiktion ergibt sich dann wieder eine nach § 64 Abs. 2 EStG zu lösende Anspruchskonkurrenz. Kindergeld erhält, wer das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Das Kindergeld steht dann ggf. dem im anderen Mitgliedstaat lebenden Elternteil zu. Dies stellt sicher, dass das Kindergeld – wie beabsichtigt (§ 31 Satz 3, §§ 74 ff. EStG) – tatsächlich dem Kind zugutekommt.
4. Anders ist es aber, wenn der im Inland wohnende Elternteil (auch) mit dem anderen Elternteil (und dem Kind) in einem gemeinsamen Haushalt im anderen Mitgliedstaat lebt: Dann können die Eltern den Kindergeldberechtigten bestimmen (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). Lebt das Kind allerdings im Haushalt der Großeltern, sind die Grundsätze der BFH-Urteile vom 15.6.2016, III R 57/12, Haufe-Index 9759880 und vom 13.7.2016, XI R 28/12, Haufe-Index 9759889 zu beachten.
5. Der fehlende Kindergeldantrag des im anderen Mitgliedstaat wohnenden Elternteils bewirkt nicht, dass der Anspruch auf den Elternteil zurückfällt, der im Inland das Kindergeld beantragt hat. Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 ist dieser Antrag vielmehr als Antrag des vorrangig Berechtigten zu behandeln.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 13.7.2016 – XI R 33/12