Leitsatz
1. Ob die Voraussetzungen des Wohnsitzbegriffs i.S.d. § 8 AO erfüllt sind, ist nach den objektiv erkennbaren Umständen zu beurteilen. Das Beachten melderechtlicher Vorschriften ist nicht maßgebend.
2. Die Beurteilung der Begleitumstände des "Innehabens" einer Wohnung i.S.d. § 8 AO liegt weitgehend auf tatsächlichem Gebiet. Dabei können alle Umstände des Einzelfalls herangezogen werden, die nach der Lebenserfahrung den Schluss erlauben, dass der betreffende Steuerpflichtige die Wohnung beibehält, um sie als solche zu nutzen. Als Anhaltspunkt für eine Beibehaltung und Nutzung der Wohnung kann auf die Sechsmonatsfrist des § 9 S. 2 AO zurückgegriffen werden.
3. Der BFH ist als Revisionsgericht gem. § 118 Abs. 2 FGO an die Beurteilung durch das FG gebunden. Hat das FG eine notwendige Würdigung unterlassen, so kann der BFH als Revisionsgericht sie auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des FG vornehmen.
Normenkette
§ 26 Abs. 1 EStG, § 9 S. 2 AO
Sachverhalt
Der Kläger, ein Profisportler, und seine damalige Freundin/jetzige Ehefrau bezogen Ende Juli 2000 aus den USA kommend eine ihnen vom Sportclub zur Verfügung gestellte Wohnung im Inland. In der spielfreien Zeit von April bis Mitte August 2001 hielten sie sich in den USA auf und heirateten dort im Juni 2001. Mitte August 2001 kehrten sie in die von ihnen beibehaltene Wohnung im Inland zurück, gaben diese aber bereits Ende August 2001 auf und zogen aus persönlichen Gründen wieder in die USA.
Das FG (FG Baden-Württemberg, Urteil vom 07.04.2005, 10 K 327/03, Haufe-Index 1687697) stellte lediglich auf den Zeitraum August 2001 ab und sah in dem 14-tägigen Aufenthalt der Ehefrau lediglich einen Besuch, der keinen Wohnsitz begründen könne.
Entscheidung
Der BFH verpflichtete das FA zur Zusammenveranlagung. Der BFH würdigte den Sachverhalt dahingehend, dass nicht nur der Kläger, sondern auch seine Freundin/Ehefrau während des USA-Aufenthalts und damit zum Zeitpunkt der Heirat im Juni 2001 und danach die Wohnung im Inland weiterhin innehatte. Für die Beibehaltung der Wohnung auch durch die Freundin/Ehefrau sprachen die während ihrer Abwesenheit dort belassenen persönlichen Gegenstände sowie die Annahme, dass Ehepartner regelmäßig eine Wohnung gemeinsam nutzen.
Hinweis
1. Ehegatten werden nach § 26 Abs. 1 EStG auf Antrag zusammen veranlagt, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind:
- unbeschränkte Steuerpflicht beider Ehegatten,
- nicht dauerndes Getrenntleben.
Es genügt, wenn diese Voraussetzungen zu einem beliebigen Zeitpunkt entweder zu Beginn oder im Lauf des Veranlagungszeitraums gleichzeitig vorgelegen haben.
2. Nach § 8 AO hat jemand dort einen Wohnsitz und ist damit unbeschränkt steuerpflichtig, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Das "Innehaben" setzt voraus, dass der Wohnberechtigte nach Belieben über die Wohnung verfügen kann.
Bei der Freundin oder Ehefrau des Steuerpflichtigen genügt es für das Innehaben, dass die tatsächliche Verfügungsmöglichkeit vom Freund/Ehepartner abgeleitet ist. Die Eheschließung kann als Indiz für die Beibehaltung des Wohnsitzes gewertet werden. Denn Ehepartner nutzen regelmäßig die Wohnung der Familie gemeinsam.
3. Für die Frage, ob der Schluss gerechtfertigt ist, dass eine Wohnung vom Steuerpflichtigen beibehalten und genutzt wird, stellt der BFH auf den Sechs-Monats-Zeitraum des § 9 AO ab, der im Regelfall für einen gewöhnlichen Aufenthalt vorausgesetzt wird. Bei einem zeitlich zusammenhängenden Aufenthalt von mehr als sechs Monaten ist grundsätzlich vom Innehaben der inländischen Wohnung und damit von der unbeschränkten Steuerpflicht auszugehen. Diese endet erst, wenn nach objektiv erkennbaren Umständen der Wohnsitz aufgegeben wird.
4. Der BFH hebt besonders hervor, dass der inländische Wohnsitz nicht der "Mittelpunkt der Lebensinteressen" des Steuerpflichtigen darstellen muss. Dieser kann auch in einer weiteren Wohnung im Ausland liegen. Werden mehrere Wohnsitze unterhalten, sind diese daher gleichwertig.
5. Beachten Sie insbesondere Folgendes: Der BFH ist an die Tatsachenfeststellungen und die Würdigung der festgestellten Tatsachen durch das FG gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO). Hat das FG zwar Tatsachen festgestellt, diese aber gar nicht gewürdigt, kann der BFH die vom FG unterlassene Würdigung nachholen. Er kann also – ohne dass es einer Zurückverweisung an das FG bedürfte – eine Tatsachenwürdigung hinsichtlich des Innehabens einer Wohnung vornehmen, selbst wenn mehrere Möglichkeiten der Würdigung bestehen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 22.08.2007, III R 89/06 (NV)