Leitsatz (amtlich)
1. Ist auf Grund eines Rechtsbehelfs eines Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten ein Steuerbescheid geändert worden, so kann das FA nach § 174 Abs.4 und 5 AO 1977 eine bestandskräftige Steuerfestsetzung zu Lasten eines anderen Steuerpflichtigen ändern, damit der zugrundeliegende einheitliche Lebenssachverhalt bei beiden Steuerpflichtigen übereinstimmend beurteilt wird.
2. Dies gilt insbesondere für die einkommensteuerrechtliche Würdigung wiederkehrender Leistungen auf Seiten des Verpflichteten nach § 10 Abs.1 Nr.1 EStG 1975 und auf Seiten des Berechtigten nach § 22 Nr.1 EStG 1975.
Orientierungssatz
Ein "bestimmter Sachverhalt" i.S. des § 174 Abs. 4 und 5 AO 1977 ist ein einheitlicher Lebensvorgang, aus dem steuerrechtliche Folgen sowohl bei dem Steuerpflichtigen als auch bei dem Dritten zu ziehen sind. Die steuerrechtlichen Folgen brauchen bei beiden nicht die gleichen zu sein. Auf Grund ein und desselben Sachverhalts kann beim Steuerpflichtigen eine abziehbare Ausgabe und beim Dritten eine Einnahme in Betracht kommen (Anschluß an BFH-Rechtsprechung).
Normenkette
AO 1977 § 174 Abs. 4-5; EStG 1975 § 10 Abs. 1 Nr. 1, § 22 Nr. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) übertrug ihren Gewerbebetrieb auf Grund notariellen Vertrags vom 15.Dezember 1971 im Wege der vorweggenommenen Erbfolge auf ihre Tochter. Diese verpflichtete sich gegenüber ihrer Mutter, ihr lebenslänglich monatlich 1 200 DM zu zahlen. Diese Verpflichtung war mit einer Wertsicherungsklausel verbunden. Außerdem behielten sich die Vertragsparteien "die Abänderungsmöglichkeit nach § 323 ZPO" vor.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) hatte die Rechtsbeziehungen zwischen der Klägerin und ihrer Tochter ursprünglich dahin gewürdigt, daß er bei der Tochter eine dauernde Last i.S. von § 10 Abs.1 Nr.1 des Einkommensteuergesetzes 1975/1977 (EStG) und bei der Klägerin Einkünfte aus wiederkehrenden Bezügen nach § 22 Nr.1 Satz 1 EStG angenommen hatte.
Nach einer Betriebsprüfung bei der Tochter gelangte das FA zu der Auffassung, es liege eine nur mit dem Ertragsanteil steuerlich zu berücksichtigende Leibrente vor. Demgemäß änderte es --neben den Einkommensteuerbescheiden der Tochter-- die gegen die Klägerin ergangenen ursprünglichen Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 1976 und 1977 gemäß § 164 Abs.2 der Abgabenordnung (AO 1977) und hob zugleich den Vorbehalt der Nachprüfung auf.
Die Tochter legte gegen die ihr gegenüber ergangenen Einkommensteuerbescheide 1976 und 1977 Einspruch mit dem Begehren ein, ihre Zahlungen an ihre Mutter wie ursprünglich als dauernde Last zu behandeln. Nachdem das FA die Klägerin zum Rechtsbehelfsverfahren gemäß § 174 Abs.5 Satz 2 und § 360 AO 1977 hinzugezogen hatte, gab es dem Einspruch der Tochter statt. Anschließend änderte es noch im Jahre 1980 die Einkommensteuerveranlagungen 1976 und 1977 der Klägerin gemäß § 174 Abs.4 und 5 AO 1977, indem es bei der Klägerin --wie ursprünglich-- Einkünfte aus wiederkehrenden Bezügen nach § 22 Nr.1 Satz 1 EStG annahm. Der Einspruch der Klägerin blieb erfolglos.
Mit ihrer Klage machte die Klägerin geltend, zwar habe das FA ihre von ihrer Tochter herrührenden Bezüge zutreffend in vollem Umfang als sonstige Einkünfte beurteilt. Jedoch hätten die Einkommensteuerbescheide nicht nach § 174 Abs.4 und 5 AO 1977 geändert werden dürfen. Der Tatbestand dieser Vorschrift sei nicht erfüllt. Das FA habe nicht auf ihr Betreiben hin Steuerbescheide zu ihren Gunsten geändert, woraus es nun entsprechende Folgerungen zu ziehen gelte.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit der Begründung ab, § 174 Abs.4 und 5 AO 1977 gestatte es, Folgerungen zu Lasten eines Dritten zu ziehen, nachdem die unrichtige Beurteilung desselben Sachverhalts zugunsten eines anderen Steuerpflichtigen richtiggestellt worden sei.
Mit ihrer vom Bundesfinanzhof (BFH) zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 174 Abs.4 und 5 AO 1977.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil, die Einspruchsentscheidung und die Einkommensteueränderungsbescheide 1976 und 1977 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist unbegründet.
Das FG hat rechtsfehlerfrei dem FA das Recht zugesprochen, die Einkommensteuerveranlagungen 1976 und 1977 gemäß § 174 Abs.4 und 5 AO 1977 zu Lasten der Klägerin zu ändern und dabei ihre von ihrer Tochter herrührenden Bezüge in vollem Umfang als sonstige Einkünfte nach § 22 Nr.1 Satz 1 EStG zu behandeln.
1. Ist auf Grund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der auf Grund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können nach § 174 Abs.4 Satz 1 AO 1977 aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlaß oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Gegenüber Dritten gilt diese Regelung gemäß § 174 Abs.5 Satz 1 AO 1977, wenn sie an dem Verfahren, das zur Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids geführt hat, beteiligt waren.
a) Der --vom FA irrig beurteilte-- "bestimmte Sachverhalt" i.S. des § 174 Abs.4 und 5 AO 1977 braucht nicht bei dem Steuerpflichtigen und dem Dritten vollen Umfangs inhaltsgleich zu sein. Entgegen der Auffassung von v.Wedelstädt (Der Betrieb --DB-- 1981, 1254) darf der Begriff nicht auf die Tatsachen eingeengt werden, die für die Subsumtion unter eine Steuerrechtsnorm erheblich sind. Ein bestimmter Sachverhalt ist vielmehr ein einheitlicher Lebensvorgang, aus dem steuerrechtliche Folgerungen sowohl bei dem Steuerpflichtigen als auch bei dem Dritten zu ziehen sind (BFH-Beschluß vom 6.Dezember 1979 IV B 56/79, BFHE 130, 1, BStBl II 1980, 314). Die steuerrechtlichen Folgen brauchen bei beiden nicht die gleichen zu sein. Auf Grund ein und desselben Sachverhalts kann beim Steuerpflichtigen eine abziehbare Ausgabe und beim Dritten eine Einnahme in Betracht kommen (BFH-Beschluß in BFHE 130, 1, BStBl II 1980, 314; BFH-Urteil vom 22.Juli 1980 VIII R 114/78, BFHE 131, 429, BStBl II 1981, 101; vgl. auch BFH-Beschluß vom 19.Mai 1981 VIII B 90/79, BFHE 133, 348, BStBl II 1981, 633).
Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Er teilt nicht die Bedenken, die in der Literatur dagegen erhoben werden, daß § 174 Abs.4 und 5 AO 1977 --über die Tatbestände der Abs.1 bis 3 hinausgehend-- als eigenständige Änderungsnorm verstanden wird (vgl. Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten (AO 1977), 7.Aufl., Stuttgart 1983, S.104; Frotscher, § 174 Anm.2b in Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung; Meyer, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 1985, 73). Nach dem Wortlaut des § 174 Abs.4 und 5 AO 1977 genügt es, daß ein und derselbe Sachverhalt sowohl beim Steuerpflichtigen als auch beim Dritten erfaßt und dabei irrig beurteilt worden ist, ohne daß dabei die Rechtsfolgen übereinzustimmen brauchen. Nach einer Richtigstellung der rechtlichen Beurteilung zugunsten des einen Steuerpflichtigen kann damit korrespondierend aus dem einheitlichen Lebenssachverhalt die rechtliche Folgerung auch bei dem anderen Steuerpflichtigen im Wege der Änderung seiner bestandskräftigen Steuerfestsetzung gezogen werden.
b) Diese Erwägungen ergeben auch den Rechtfertigungsgrund dafür, daß aus der Richtigstellung einer irrigen Beurteilung eines einheitlichen Sachverhalts steuerrechtliche Folgerungen nicht nur zu Lasten ein und desselben Steuerpflichtigen, sondern auch zu Lasten eines bereits bestandskräftig beschiedenen Dritten gezogen werden dürfen. Ein und derselbe Sachverhalt, der sich bei zwei verschiedenen Steuerpflichtigen auswirkt, soll nach § 174 Abs.4 und 5 AO 1977 bei beiden deckungsgleich beurteilt werden können. Zu diesem Zweck ist im System der Änderungsvorschriften nach §§ 172 ff. AO 1977 mit der vorstehenden Vorschrift eine eigenständige Rechtsgrundlage zur Durchbrechung der Bestandskraft einer Steuerfestsetzung geschaffen worden. Dieser Änderungsgrund kann jedoch nicht als systemfremd und als willkürlich (vgl. Art.3 des Grundgesetzes --GG--) angesehen werden. Der einheitliche Lebenssachverhalt und das Bestreben nach seiner übereinstimmenden steuerrechtlichen Beurteilung bei zwei verschiedenen Steuerpflichtigen erlauben es, einer zutreffenden Besteuerung den Vorrang vor dem Schutz des Vertrauens auf die Bestandskraft der Steuerfestsetzung zu geben. Nachdem sich im materiellen Steuerrecht das Korrespondenzprinzip findet, wie etwa bei den dauernden Lasten und den wiederkehrenden Bezügen (§ 10 Abs.1 Nr.1 und § 22 Nr.1 EStG), kann es dem Gesetzgeber nicht verwehrt sein, hierauf auch bei den Vorschriften über die Änderung von Steuerverwaltungsakten zurückzugreifen.
2. Nach den vorstehenden Grundsätzen waren die Voraussetzungen für eine Änderung der Einkommensteuerveranlagungen der Klägerin nach § 174 Abs.4 und 5 AO 1977 erfüllt. Ein und derselbe Sachverhalt im Sinne dieser Vorschrift ist sowohl bei der Einkommensteuerveranlagung der Klägerin als auch der ihrer Tochter erfaßt und beurteilt worden. Dieser Sachverhalt ist in dem anläßlich einer Vermögensübertragung gegebenen Versprechen der Tochter zu wiederkehrenden Leistungen an die Klägerin unter dem Vorbehalt einer Abänderbarkeit entsprechend dem Rechtsgedanken des § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zu erblicken. Nachdem das FA diesen Sachverhalt zuvor rechtsirrig als Leibrentenversprechen beurteilt hatte, hat es auf den Einspruch der Tochter hin diesen Fehler durch Annahme einer dauernden Last richtiggestellt.
Die Klägerin konnte zwar noch die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen einer Änderung nach § 174 Abs.4 und 5 AO 1977 bestreiten; sie muß aber die materiell-rechtliche Beurteilung des einheitlichen Lebensvorgangs auf Grund ihrer Hinzuziehung zu dem Einspruchsverfahren ihrer Tochter gemäß § 174 Abs.5 Satz 2 und § 360 AO 1977 gegen sich gelten lassen.
Einer Änderung des Einkommensteuerbescheids der Klägerin steht auch nicht § 176 Abs.1 Satz 1 Nr.3 AO 1977 entgegen. Das FA hat bei seiner voraufgegangenen Beurteilung des Versprechens der Tochter zu wiederkehrenden Leistungen an die Klägerin nicht eine später geänderte Rechtsprechung des BFH angewendet. Ein anläßlich einer Vermögensübertragung abgegebenes Versprechen zu wiederkehrenden Leistungen verbunden mit einer Abänderungsklausel entsprechend § 323 ZPO hatte der BFH schon vor den Streitjahren 1976 und 1977 als dauernde Last nach § 10 Abs.1 Nr.1 EStG bzw. als ein Recht auf wiederkehrende Bezüge nach § 22 Nr.1 Satz 1 EStG angesehen (vgl. Urteile vom 1.August 1975 VI R 48/73, BFHE 116, 501, BStBl II 1975, 881; vom 20.Mai 1980 VI R 108/77, BFHE 130, 520, BStBl II 1980, 573).
Fundstellen
Haufe-Index 61620 |
BStBl II 1988, 404 |
BFHE 152, 203 |
BFHE 1988, 203 |
HFR 1988, 317 (LT1-2) |