Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Baetge, Dr. Dirk Fey
Rn. 32
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Die sehr allg. und teils gegensätzlichen Zwecke "Rechenschaft" und "Kap.-Erhaltung" lassen dem JA-Ersteller i. A. bei der Beurteilung der Frage, welche RL-Alternative in einem speziellen Sachverhalt zweckgerecht ist, einen großen Ermessensspielraum (vgl. Schneider, StuW 1983, S. 141 (158)). Ein so großes Spektrum von Alternativen ist nicht vereinbar mit der gesetzlichen Forderung, auch ein sachverständiger Dritter müsse sich einen Überblick über die wirtschaftliche Lage des UN verschaffen können (vgl. § 238 Abs. 1 Satz 2). Denn ein außenstehender Dritter kann nur vom JA auf die abgebildete Realität zurückschließen, wenn im Einzelfall – wenigstens außerhalb der vom Gesetz explizit eingeräumten Wahlrechte – nicht eine größere Zahl von zweckgerechten RL-Alternativen anwendbar ist (vgl. Baetge, in: HWR (1981), Sp. 702 (703); HdR-E, Kap 4, Rn. 59). Die gesetzliche Forderung des § 238 Abs. 1 Satz 2 bezieht sich zwar explizit nur auf die Buchführung. Da aber nur der JA in kurzer Zeit einen umfassenden Überblick über die Lage des UN vermitteln kann, gilt für ihn § 238 Abs. 1 Satz 2 analog (vgl. mit a. A. Jüttner (1993), S. 85).
Rn. 33
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Hat sich bei Existenz mehrerer zweckgerechter RL-Alternativen ein Konsens für eine bestimmte Alternative gebildet, so ist im Zweifel diese Alternative zu wählen (vgl. Leffson, WPg 1973, S. 582 (583); so auch die amerikanische Bezeichnung für GoB als "generally accepted accounting principles"), damit der JA für einen sachverständigen Dritten nachvollziehbar wird. Ein typisches Beispiel für eine allg. anerkannte Wahl einer RL-Alternative aus einem Bündel von Möglichkeiten ist die Festlegung des Realisationszeitpunkts auf den Leistungszeitpunkt (vgl. HdR-E, Kap. 4, Rn. 86). Zu beachten ist die Spezialregelung des § 253 Abs. 1 Satz 4, wonach gemäß § 246 Abs. 2 Satz 2 mit Pensionsrückstellungen zu verrechnende VG (sog. Planvermögen; vgl. HdR-E, HGB § 243, Rn. 26) mit ihrem beizulegenden Zeitwert zu bewerten sind. Durch diese für bestimmte VG vorgeschriebene Bewertung zum beizulegenden Zeitwert wird das allg. anerkannte Realisationsprinzip weniger konsequent umgesetzt (vgl. Solmecke (2009), S. 213ff.). Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines allg. Konsenses bieten Gewohnheitsrecht, Handelsbrauch und Verkehrsanschauung (vgl. Steinbach, ZfbF 1973, S. 1 (12ff.)), wobei der Nachweis eines allg. Konsenses im Einzelfall allerdings häufig nicht unproblematisch sein dürfte (vgl. HdR-E, HGB § 243, Rn. 6ff.).
Der allg. Konsens als Voraussetzung einer GoB-konformen RL darf allerdings nicht überinterpretiert werden (vgl. Boelke (1970), S. 55f.). Eine Alternative, die nicht mit den gesetzlichen Zwecken übereinstimmt, aber einem durch die Rechnungslegenden praktizierten Handelsbrauch oder der von ihnen vertretenen Verkehrsanschauung entspricht, wird durch diesen Konsens nicht GoB-konform (vgl. Beck Bil-Komm. (2020), § 243 HGB, Rn. 16). Denn Aufgabe der GoB als Bestandteil der gesetzlichen Generalnorm ist es v.a., einen übergeordneten Maßstab für eine ordnungsmäßige, d. h. v.a. den Gesetzeszwecken entsprechende RL zu bilden (vgl. ADS (1995), § 243, Rn. 13ff.).