Rn. 117
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Nach § 289 Abs. 1 Satz 4 sind nicht nur die voraussichtliche Entwicklung, sondern auch die mit ihr einhergehenden wesentlichen Chancen und Risiken des UN zu beurteilen und zu erläutern (vgl. Kajüter BB 2004, S. 427ff.; Dörner, in: FS Baetge (2007), S. 171ff.; Fink/Kajüter (2021), S. 263ff.). Chancen und Risiken bezeichnen dabei mögliche künftige Entwicklungen oder Ereignisse, die zu einer positiven bzw. negativen Abweichung von den Prognosen oder Zielen des UN führen können (vgl. DRS 20.11). Referenzpunkt für mögliche positive oder negative Abweichungen ist somit die im Prognosebericht aufgezeigte voraussichtliche Entwicklung des UN. Diese am Wortlaut des Gesetzes orientierte Definition trägt dem spiegelbildlichen Charakter von Chancen und Risiken als "zwei Seiten einer Medaille" Rechnung. Nachstehende Übersicht veranschaulicht das Begriffsverständnis anhand einer Punkt- und einer Intervallprognose. Aus dieser Begriffsdefinition folgt, dass allg. Potenziale, Optionen oder Möglichkeiten keine Chancen i. S. v. § 289 Abs. 1 Satz 4 darstellen (vgl. Kajüter/Esser, IRZ 2007, S. 381 (386); Fink/Kajüter (2021), S. 265). Potenziale aus Wachstumsmärkten oder der eigenen Forschung sind dagegen in der Prognose zu berücksichtigen. Sie werden vielfach in strategischen Analysen (z. B. in der SWOT-Analyse) betrachtet und als Chancen bezeichnet, entsprechen aber nicht dem Chancenverständnis nach § 289 Abs. 1 Satz 4 (vgl. zu empirischen Befunden einer dem Gesetzeswortlaut widersprechenden Chancenberichterstattung Kajüter/Nienhaus/Mohrschladt, WPg 2015, S. 514 (521)).
Übersicht: Chancen- und Risikobegriff
Rn. 118
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Der Begriffsdefinition entsprechend kann die Berichterstattung über Chancen und Risiken gemeinsam oder jeweils separat erfolgen (vgl. DRS 20.117). Unabhängig davon ist es möglich, die Chancen- und Risikoberichterstattung in den Prognosebericht zu integrieren oder getrennt von ihm darzustellen. Möglich sind mithin (1) ein integrierter Prognose-, Chancen- und Risikobericht, (2) ein separater Prognosebericht und ein gemeinsamer Chancen- und Risikobericht oder (3) drei einzelne Berichte für Prognose, Chancen und Risiken (vgl. auch HdR-E, HGB §§ 289, 289a–f, Rn. 95; Fink/Kajüter (2021), S. 267). Aus den Darstellungsalternativen sollte jene ausgewählt werden, die im Einzelfall die voraussichtliche Entwicklung und die damit einhergehenden Chancen und Risiken dem verständigen Adressaten am klarsten vermittelt.
Rn. 119
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Nach dem Wortlaut des Gesetzes hat die Berichterstattung über Chancen grds. denselben Stellenwert wie die Berichterstattung über Risiken. Es ist demnach ausgewogen über Chancen und Risiken zu berichten (vgl. DRS 20.166). Dies bedeutet nicht, dass dieselbe Anzahl an Chancen und Risiken darzustellen ist oder Chancen und Risiken im gleichen Umfang zu erläutern sind, denn je nach Prognose können die möglichen negativen Abweichungen im Einzelfall bedeutsamer sein als die möglichen positiven Abweichungen (oder umgekehrt). Eine ausgewogene Berichterstattung erfordert vielmehr, dass weder ein zu positives noch ein zu negatives Bild der möglichen Abweichungen von der Prognose vermittelt wird (vgl. so etwa auch Beck Bil-Komm. (2020), § 289 HGB, Rn. 60 i. V. m. § 315 HGB, Rn. 133, 137).
Rn. 120
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Berichtspflichtig sind nur wesentliche Chancen und Risiken, also solche, die einen signifikanten Einfluss auf die voraussichtliche Entwicklung des UN haben können (vgl. Beck Bil-Komm. (2020), § 289 HGB, Rn. 60 i. V. m. § 315 HGB, Rn. 148) und daher geeignet sind, die Entscheidungen der verständigen Lageberichtsadressaten zu beeinflussen (vgl. DRS 20.146). Sie können sowohl aus dem UN-Umfeld (externe Chancen und Risiken) als auch aus dem UN selbst (interne Chancen und Risiken) heraus resultieren. Bei der Einschätzung der Wesentlichkeit sind die Eintrittswahrscheinlichkeit wie auch die betragsmäßige Auswirkung zu berücksichtigen. Die Auswirkungen von Chancen und Risiken dürfen nicht miteinander saldiert werden (vgl. DRS 20.167).
Rn. 121
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Als wesentlich sind v.a. bestandsgefährdende Risiken anzusehen. Hierunter sind solche Risiken zu verstehen, die eine Abkehr vom Grundsatz der UN-Fortführung gemäß § 252 Abs. 1 Nr. 2 erfordern. Es kann sich dabei z. B. um disruptive Veränderungen von Technologien, den Zusammenbruch wichtiger Absatzmärkte, den Ausfall großer Forderungen oder die Nichtverlängerung von Kreditlinien handeln, die zur Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit führen. Bestandsgefährdende Risiken sind als solche zu bezeichnen (vgl. DRS 20.148). Sofern keine bestandsgefährdenden Risiken oder andere wesentliche Chancen und Risiken erkennbar sind, sollte hierauf durch eine Fehlanzeige hingewiesen werden (vgl. ADS (2001), § 289, Rn. 13; Kaiser, WPg 2005, S. 405 (413)).
Rn. 122
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Über Chancen und Risiken ist auch dann zu berichten, wenn ihre Offenlegung (v.a. im Fall einer Bestand...