Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Baetge, Dr. Boris Hippel
Rn. 39
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Die Forderung des § 264 Abs. 2 nach einem Bild von der Lage des UN, das den tatsächlichen Verhältnissen entspricht, ist inhaltlich mit Art. 4 Abs. 3 der Bilanz-R (zuvor: Art. 2 Abs. 3 der 4. EG-R) identisch, denn dort heißt es: "Der Jahresabschluss hat ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens zu vermitteln." Durch diese Forderung "wollte die Kommission eindeutig festlegen, daß der Jahresabschluß im guten Glauben und mit Objektivität erstellt werden muß und daß alle wesentlichen, für die Benutzer von Jahresabschlüssen bedeutenden Informationen in angemessener Form offenzulegen sind, gleichgültig, ob diese Informationen in der Richtlinie verlangt werden oder nicht" (Groupe d’Etudes des Experts Comptables de la C.E.E. (1975), S. III/17; Herv.d. d.Verf.). Die Groupe d’Etudes des Experts Comptables zeigt mit dieser Formulierung, welches Gewicht der Generalnorm nach ihrer Meinung beizulegen ist. In der Begründung der KOM der EG heißt es, dass die Generalnorm "von erstrangiger Bedeutung" (EG-KOM (1974), S. 213) sei.
Rn. 40
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Ursprung dieser Generalnorm ist der im englischen Recht enthaltene "true and fair view"-Grundsatz. Dem "true and fair view" kam im früheren englischen Recht große Bedeutung zu, denn diese Generalnorm war der ständig zu beachtende Maßstab für die Aufstellung des JA (vgl. Tubbesing, AG 1979, S. 91 (92); Funk (1985), S. 161). Die dort früher nur in geringem Umfang vorhandenen Einzelvorschriften waren diesem Grundsatz untergeordnet (vgl. Schildbach, WPg 1979, S. 277 (279f.)), d. h., es galt das "overriding principle" (vgl. HdR-E, HGB § 264, Rn. 19).
Die Bilanz-R (zuvor: 4. EG-R) und auch das HGB enthalten dagegen eine Vielzahl von detaillierten Einzelvorschriften. Diese schränken den Anwendungsbereich der Generalnorm ein (vgl. Schildbach, WPg 1979, S. 277 (282)). Biener (AG 1978, S. 251 (252)) etwa führt aus, dass "Generalklauseln nur dann eine entscheidende Bedeutung [haben, d.Verf.], wenn gesetzliche Einzelregelungen fehlen." Aber auch wenn der Anwendungsbereich der Generalklausel durch die Einzelvorschriften eingeschränkt wird, bleibt die Generalnorm trotzdem oberstes Gebot für die Aufstellung von JA (vgl. zum Verhältnis zwischen der Generalnorm und den Einzelvorschriften HdR-E, HGB § 264, Rn. 43ff., sowie HdR-E, Kap. 4, Rn. 113f.).
Rn. 41
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Welche Bedeutung der Generalnorm beizulegen ist, zeigt sich auch darin, dass im Gesetz mehrfach auf die Generalnorm des § 264 Abs. 2 verwiesen bzw. deren Wortlaut aufgegriffen wird. Von besonderer Bedeutung ist, dass der Wortlaut der Generalnorm vom AP gemäß § 322 auch in die Formulierung des BV aufzunehmen ist (vgl. HdR-E, HGB § 264, Rn. 25).
Trotz dieser großen Bedeutung der Generalnorm des § 264 Abs. 2 im Gesetz versucht der Gesetzgeber deren Rolle für die Aufstellung des JA in der RegB zu § 264 Abs. 2 zu relativieren:
"Wie bisher ergeben sich Inhalt und Umfang des Jahresabschlusses in erster Linie aus den Einzelvorschriften von Gesetzen und Verordnungen, [...] insbesondere aus dem Dritten Buch, wobei die Form der Darstellung und der Umfang der verlangten Information rechtsform-, größen- und branchenabhängige Unterschiede aufweisen. Die Generalklausel ist deshalb nur heranzuziehen, wenn Zweifel bei der Auslegung und Anwendung einzelner Vorschriften entstehen oder Lücken in der gesetzlichen Regelung zu schließen sind. Die Generalklausel steht nicht in dem Sinne über der gesetzlichen Regelung, daß sie es erlauben würde, den Inhalt und Umfang des Jahresabschlusses in Abweichung von den gesetzlichen Vorschriften zu bestimmen. Insbesondere ist die Befürchtung unbegründet, daß aus der Generalklausel ganz allgemeine zusätzliche Anforderungen für alle oder bestimmte Unternehmen abgeleitet werden könnten" (BT-Drs. 10/317, S. 76).
Der Anwendungsbereich der Generalnorm wird wesentlich durch das Verhältnis zwischen der Generalnorm und den Einzelvorschriften bestimmt (vgl. HdR-E, HGB § 264, Rn. 43ff.).