Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. David Markworth
Rn. 35
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Konzernvorgänge sind grds. Teil der eigenverantwortlichen UN-Leitung, die das Gesetz dem Vorstand zuweist (vgl. Goette, AG 2006, S. 522 (523)). Ungeschriebene Mitwirkungsbefugnisse der HV kommen daher allein dann in Betracht, "wenn eine von dem Vorstand in Aussicht genommene Umstrukturierung der Gesellschaft an [... der, d.Verf.] Kernkompetenz der Hauptversammlung, über die Verfassung der Aktiengesellschaft zu bestimmen, rührt, weil sie Veränderungen nach sich zieht, die denjenigen zumindest nahe kommen, welche allein durch eine Satzungsänderung herbeigeführt werden können" (BGH, Urteil vom 26.04.2004, II ZR 155/02, BGHZ 159, S. 30 (44f.)).
Rn. 36
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Die genaue Reichweite der besonderen Zuständigkeit ist aber auch nach den Gelatine-Entscheidungen nicht abschließend geklärt, bedarf vielmehr einer weiteren Herausarbeitung durch Rspr. und rechtswissenschaftliche Literatur. Offen ist zunächst, inwieweit bei Maßnahmen außerhalb von Ausgliederungen ein Anwendungsbereich für die besondere Zuständigkeit der HV besteht (qualitatives Element). Einigkeit besteht darüber, dass es sich um eine Strukturmaßnahme handeln muss. Auch wenn eine wesentliche Beteiligung an einem anderen UN erworben wird, kann ein Mediatisierungseffekt gegeben und daher die Zustimmung der HV erforderlich sein (strittig; dafür wie hier: LG Frankfurt am Main, Urteil vom 15.12.2009, 3/5 O 208/09, ZIP 2010, S. 429 (431f.); Goette, AG 2006, S. 522 (527); Paefgen, ZHR 2008, S. 42 (46); KonzernR (2022), Vorbemerkungen zu § 311 AktG, Rn. 42, jeweils m. w. N.; a. A. OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 21.06.2007, 5 U 34/07, AG 2008, S. 862 (863f.); Arnold, ZIP 2005, S. 1573 (1577); näher: Hofmeister, NZG 2008, S. 47 (50f.); dies offen lassend: BGH, Beschluss vom 07.02.2012, II ZR 253/10, AG 2012, S. 248). Umstritten ist weiterhin, ob die Holzmüller/Gelatine-Grundsätze auch bei der Veräußerung von Beteiligungen eingreifen sollten. Mit der wohl h. M. ist dies zu verneinen (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 20.11.2006, II ZR 226/05,DStR 2007, S. 586f.; OLG Hamm, Urteil vom 19.11.2007, 8 U 216/07, NZG 2008, S. 155 (157); Goette, AG 2006, S. 522 (527); Arnold, ZIP 2005, S. 1573 (1577); Hofmeister, NZG 2008, S. 47 (50); anders aber wohl: OLG Köln, Urteil vom 15.01.2009, 18 U 205/07, ZIP 2009, S. 1469ff.; für eine mögliche Zustimmungspflicht unter dem Gesichtspunkt des satzungsmäßigen UN-Gegenstands: Priester, ZGR 2017, S. 474 (483)). Weitgehend geklärt ist hingegen die Anwendbarkeit auf Konzernumbildungen, die von nachteiligem Einfluss auf die Aktionäre des MU sind (vgl. zu einer sog. "Umhängung" BGH, Urteil vom 26.04.2004, II ZR 155/02, BGHZ 159, S. 30 (47f.)). Demgegenüber zieht die Mitwirkung des Vorstands an einem sog. "Merger of Equals" durch Abschluss eines Business Combination Agreements, bei dem ein öffentliches Umtauschangebot an die Aktionäre der Gesellschaft ergeht und bei dessen Erfolg die Gesellschaft zu einem abhängigen UN einer neu gegründeten Holding-Gesellschaft wird, keine Mediatisierung zu Lasten der Aktionäre nach sich, weshalb eine HV-Kompetenz zu verneinen ist (Modell: Linde/Praxair, umstritten; vgl. OLG München, Urteil vom 14.10.2020, 7 U 448/19, NZG 2021, S. 1160 (Rn. 89), m. w. N.; Wilsing, in: FS Marsch-Barner (2018), S. 595 (600ff.); kritisch Strohn, ZHR 2018, S. 114ff.).
Rn. 37
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Unklar ist weiterhin aber auch, welcher Teil des Gesellschaftsvermögens betroffen sein muss, um eine ungeschriebene HV-Zuständigkeit zu bejahen (quantitative Voraussetzungen, Wesentlichkeitsschwelle). Der BGH hat in der Gelatine-Entscheidung betont, dass eine wesentliche Beeinträchtigung der Aktionäre erst dann vorliege, wenn die wirtschaftliche Bedeutung in etwa die Ausmaße wie in der Holzmüller-Entscheidung habe (vgl. BGH, Urteil vom 26.04.2004, II ZR 155/02, BGHZ 159, S. 30 (45)), d. h. also ca. 80 % des Gesellschaftsvermögens betroffen sind (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 19.11.2007, 8 U 216/07, NZG 2008, S. 155 (157); Paefgen, ZHR 2008, S. 42 (43); KonzernR (2022), Vorbemerkungen zu § 311 AktG, Rn. 46). Nur noch vereinzelt wird dabei auf den "Gesamtwert des Konzerns" abgestellt (vgl. HB-GesR (2020/IV), § 70, Rn. 11).
Rn. 38
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Eine Orientierung der Wesentlichkeitsgrenze an festen Größen ist grds. abzulehnen (vgl. Henze, in: FS Ulmer (2003), S. 211 (223)). Ziel der Konzernbildungskontrolle ist es, eine Aushöhlung der Gewinnansprüche zu verhindern, so dass der Ertragskraft der rechtlich verselbständigten UN-Bereiche entscheidende Bedeutung zukommt. Völlig ungeeignet sind Quoten, die sich isoliert auf das ausgegliederte EK oder den Umsatz beziehen. Verhältnismäßig kleine, aber zukunftsträchtige Bereiche können langfristig weit überproportional zum Umsatz und Ergebnis beitragen. Abzustellen ist auf die Bedeutung für die BS, das EK und das Jahresergebnis. Auch für den als vergleichbar heranziehbaren bilanzrechtlichen Grundsatz der Wesentlichkeit bzw. sein angloamerik...