Dr. Eberhard Mayer-Wegelin, Prof. Dr. Harald Kessler
Rn. 49
Stand: EL 19 – ET: 05/2014
Neben dem Schuldcharakter ist die zweite Voraussetzung für die Bildung einer Rückstellung, dass ungewiss ist, ob und/oder in welcher Höhe der Kaufmann leisten muss. Dazu sind drei Fälle der Ungewissheit zu unterscheiden:
(1) |
dem Grunde nach, d. h., es ist ungewiss, ob die Verbindl. überhaupt entstanden ist oder noch entstehen wird, |
(2) |
der Höhe nach, in diesem Fall ist das Bestehen einer Verbindl. unstreitig, |
(3) |
dem Grunde und der Höhe nach. |
Rn. 50
Stand: EL 19 – ET: 05/2014
In Art. 20 Abs. 1 der 4. EG-Richtlinie findet sich hierzu die Formulierung, dass die Verbindl. am BilSt "wahrscheinlich oder sicher" sein muss. Diese deckt sich mit dem in § 249 Abs. 1 Satz 1 verwendeten Begriff "ungewiss", der auch die Ungewissheit über die Höhe bei ansonsten sicher entstandener Verbindl. einschließt. Damit ist erforderlich, dass die endgültige Klärung des Sachverhalts oder der Höhe noch aussteht oder derzeit nicht möglich ist.
Rn. 51
Stand: EL 19 – ET: 05/2014
Gerade im Fall (1) ist der Kaufmann nach dem Prinzip der Vorsicht gehalten, in seiner Bilanz für das bestehende Risiko Vorsorge zu treffen. Ganz abwegige Sachverhalte brauchen allerdings nicht berücksichtigt zu werden. Vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen, aufgrund derer bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung mit der Möglichkeit gerechnet werden muss, dass eine Verbindl. besteht oder später entstehen wird. Die Prognose ist anhand der erkennbaren tatsächlichen Verhältnisse zu treffen. Der BFH verlangt (vgl. z. B. BFH-Urt. v. 01.08.1984, BStBl. II 1985, S. 44ff.; BFH-Urt. v. 06.12.1995, BStBl. II 1996, S. 406 und v. 15.09.2004, BB 2005, S. 483, mit Anm. v. Schultze-Osterloh), dass mehr Gründe für das Bestehen oder das Entstehen einer Verbindl. sprechen als dagegen, und zwar nicht aus der Sicht des Kaufmanns, sondern nach objektiven Gegebenheiten (vgl. hierzu aber HdR-E, HGB § 249, Rn. 54). Zweifel über juristische Aspekte, die mit dem Bestand der Verbindl. unmittelbar nichts zu tun haben, stellen keine Ungewissheit i. S. d. § 249 Abs. 1 dar. Daher handelt es sich nicht um eine Rückstellung, sondern um eine (echte) Verbindl., wenn lediglich die Fälligkeit, die (zivilrechtl.) Verjährung oder eine Aufrechnungsmöglichkeit ungewiss ist (anders aber bei Ungewissheit über den Eintritt einer aufschiebenden oder auflösenden Bedingung, bei der der Gläubiger den Eintritt der Bedingung nicht einseitig herbeiführen kann; in beiden Fällen liegt ein Schwebezustand vor, der die Gewissheit ausschließt, vgl. HdR-E, HGB § 249, Rn. 35). Ein in einem Parallelfall ergangenes erstinstanzliches Urt. genügt für sich allein noch nicht, um überwiegende Gründe für das Bestehen einer Verbindl. annehmen zu können (vgl. BFH-Urt. v. 19.10.2005, DB 2006, S. 536). Umgekehrt schließt ein positives erstinstanzliches Urteil in eigener Sache eine Verbindl. nicht aus, solange das Urteil noch nicht rechtskräftig ist (vgl. BFH-Urt. v. 30.01.2002, BStBl. II 2002, S. 688); dies gilt auch bei überwiegend positiven Erfolgsaussichten. Diese Frage ist erneut Gegenstand eines Verfahrens vor dem BFH (vgl. Vorinstanz FG Schleswig-Holstein v. 25.09.2012, EFG 2013, S. 11). Für die Wahrscheinlichkeit des Bestehens wird nicht vorausgesetzt, dass die Verpflichtung unwiderruflich und vorbehaltlslos ist (so BFH-Urt. v. 18.01.2007, DB 2007, S. 548, zur Rückstellung für Jubiläumsleistungen).
Rn. 52
Stand: EL 19 – ET: 05/2014
Ungewissheit über die Höhe einer Verbindl. – Fall (2) – bedeutet, dass die Belastung, die auf den Kaufmann zukommt, nicht genau feststeht, sondern im Zeitpunkt der Bilanzerstellung nur geschätzt werden kann. Dies kann einmal darauf zurückzuführen sein, dass über den Umfang der Verpflichtung Streit besteht, zum anderen auch darauf, dass die exakte Höhe erst noch errechnet werden muss oder von der weiteren Entwicklung abhängt. Genau bestimmbare Schulden sind als Verbindl. auszuweisen; ggf. ist nur der ungewisse Teil unter den Rückstellungen zu erfassen (vgl. ADS 1995, § 249, Rn. 77). Von der Frage der Ungewissheit der Höhe nach ist die Bewertung der Rückstellung zu unterscheiden (vgl. hierzu HdR-E, HGB § 249, Rn. 257ff.).