Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. David Markworth
Rn. 48
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Die Nachteiligkeit sonstiger Maßnahmen beurteilt sich prinzipiell nach den gleichen Grundsätzen wie diejenige von Rechtsgeschäften. Entscheidend ist mithin, ob ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer unabhängigen Gesellschaft die betreffende Maßnahme nicht getroffen hätte (vgl. ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 54; BeckOGK-AktG (2022), § 311, Rn. 38). Bei der näheren Konkretisierung dieses Verhaltensmaßstabs ergeben sich allerdings zusätzliche Schwierigkeiten, die zum einen in der Spannbreite unternehmerischer Maßnahmen (vgl. zu ihr ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 54), zum anderen in ihrer Zukunftsgerichtetheit liegen. Letzteres gilt namentlich für grundlegende Investitions-, Organisations- und Personalentscheidungen, deren Auswirkungen sich ex ante kaum zuverlässig abschätzen lassen.
a) Ermessensgrenzen
Rn. 49
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Die Grenzen des grds. Ermessensbereichs (vgl. HdR-E, AktG § 311, Rn. 40) lassen sich bei den sonstigen Maßnahmen nur schwer in allg.-gültiger Form umreißen. Immerhin wird man für bestimmte Fallgestaltungen bei aller gebotenen Vorsicht gewisse Leitlinien angeben können. Ein Ermessensfehlgebrauch liegt speziell bei jenen Maßnahmen vor, welche die Lebensfähigkeit der abhängigen Gesellschaft gefährden (h. M.; vgl. ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 56; KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 58; vornehmlich im Hinblick auf das praktisch häufige "Outsourcing" Vetter, ZHR 2007, S. 342 (358)). Besonders sorgfältiger Nachprüfung bedürfen ferner alle Maßnahmen der Konzernintegration, die der abhängigen Gesellschaft den unmittelbaren Marktzugang abschneiden. Dazu gehören
- der vollständige oder teilweise Rückzug vom Markt (vgl. KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 58; Hüffer-AktG (2022), § 311, Rn. 35; Vetter, ZHR 2007, S. 342 (359), Aufgabe des "goodwill"),
- die Aufgabe wesentlicher unternehmerischer Teilfunktionen (vgl. Hüffer-AktG (2022), § 311, Rn. 35), sowie
- die Marktaufteilung nach Produktgruppen oder regionalen Märkten (vgl. Vetter, ZHR 2007, S. 342 (357f.)).
Nachteilig kann darüber hinaus auch die Spezialisierung des Produktionsprogramms im Hinblick auf die Konzernbedürfnisse sein, sofern den betreffenden Erzeugnissen außerhalb des UN-Verbunds die Marktgängigkeit fehlt (vgl. ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 56; KK-AktG (2004), § 311, Rn. 71).
b) Investitionsentscheidungen und Investitionsrechnung
Rn. 50
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Große Zurückhaltung ist demgegenüber bei der Qualifizierung risikobehafteter Investitionsentscheidungen als nachteilig i. S. d. § 311 AktG geboten. Je nach der Art des UN ist es hier nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten, gewisse Risiken einzugehen. Ebenso wenig lässt sich pauschal sagen, dass diese Risiken zu minimieren sind. Die Übernahme eines größeren Risikos kann im Verhältnis zum möglichen Ertrag durchaus sachgerecht sein. Die Grenze ist erst dort erreicht, wo Chancen und Risiken in einem nicht mehr vertretbaren Verhältnis zueinander stehen (vgl. KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 57). Anhaltspunkte bieten hier die in der Betriebswirtschaftslehre entwickelten Methoden der Investitionsrechnung (vgl. ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 57; Hüffer-AktG (2022), § 311, Rn. 35; MünchKomm. AktG (2020), § 311, Rn. 221; AktG-Komm. (2020), § 311, Rn. 55), mit deren Hilfe die Vorteilhaftigkeit einer Investition oder verschiedener Investitionsalternativen ermittelt werden kann. Neben den statischen Verfahren der Investitionsrechnung, die von Kosten-, Gewinn- oder Rentabilitätsvergleichen ausgehen, wird man v.a. die dynamischen Verfahren heranziehen, denen eine Totalbetrachtung der Investition für ihre gesamte Lebensdauer oder bis zu einem bestimmten Planungshorizont zugrunde liegt. Von einer praktischen Nutzanwendung noch weit entfernt sind demgegenüber die theoretisch ausgefeilteren Simultanmodelle des Kap.-Budgets, die auch die Interdependenzen einer Investition zu anderen betrieblichen Bereichen, insbesondere zum Finanzierungs-, Produktions- und Absatzsektor, berücksichtigen. Als allg. Richtschnur lässt sich festhalten, dass eine Investition jedenfalls dann nachteilig ist, wenn ihr Chancen-Risiken-Profil nach den erläuterten betriebswirtschaftlichen Grundsätzen in keinem vertretbaren Verhältnis mehr zueinander steht.
c) Nicht bezifferbare Nachteile
Rn. 51
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Als besonders drängend erweist sich im Bereich sonstiger Maßnahmen die Frage nach der Behandlung nicht bezifferbarer Nachteile (vgl. HdR-E, AktG § 311, Rn. 30). Mitunter lässt sich zwar die Nachteiligkeit einer Maßnahme als solche unzweideutig feststellen, nicht aber ihre genauen Auswirkungen auf die Vermögens- und Ertragslage der Gesellschaft. In solchen Fällen ist besondere Strenge am Platze: Die betreffende Maßnahme ist von vornherein rechtswidrig und hat bei fehlender Bezifferbarkeit des Schadens das Eingreifen der Grundsätze über die qualifiziert faktische Abhängigkeit zur Folge (h. M.; vgl. KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 58).