Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Baetge, Dr. Boris Hippel
Rn. 43
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Um eine Aussage über die Bedeutung der Generalnorm des § 264 Abs. 2 gegenüber den Einzelvorschriften des HGB machen zu können, ist ein Rückblick auf die Generalnorm des § 149 Abs. 1 Satz 2 AktG 1965 notwendig. Welche Bedeutung die Generalnorm des AktG 1965 bei der Aufstellung des JA hatte, d. h. ob und wieweit sie die von den Einzelvorschriften belassenen Spielräume einengte, war umstritten. Im Schrifttum wurden verschiedene Auffassungen vertreten (vgl. ADS (1987), § 264, Rn. 55ff.; Claussen, AG 1979, S. 169 (171)).
Forster (WPg 1965, S. 585 (587f.)) und andere Autoren (vgl. Mellerowicz/Brönner (1970), § 149 AktG, Rn. 1; Schildbach, WPg 1978, S. 617; Wichmann, WPg 1977, S. 290ff.) vertraten die Auffassung, dass die aktienrechtliche Generalnorm lediglich eine missbräuchliche Ausnutzung der bestehenden Wahlrechte, die zu einer Einschränkung des möglichst sicheren Einblicks führt, verbietet. Der Bilanzierende dürfe die Wahlrechte und die damit verbundenen Spielräume, von einigen Ausnahmefällen abgesehen, nach seinem Belieben ausnutzen.
Claussen (KK-AktG (1985), § 149, Rn. 9f.), Kropff (WPg 1966, S. 369 (370ff.), sowie MünchKomm. AktG (1973), § 149, Rn. 90ff.) und Frotz (DB 1976, S. 1343 (1346)) forderten dagegen eine sachgerechte, d. h. dem Sinn und Zweck des jeweiligen Spielraums entsprechende Anwendung des § 149 Abs. 1 Satz 2 AktG 1965. Wahlrechte sind "in erster Linie entsprechend ihrem Sinn und Zweck auszuüben. [...] Erst in zweiter Linie, nämlich, soweit sie mit dem Sinn und Zweck des einzelnen Bewertungsspielraums im Einklang steht, greift die allg. Forderung nach einem möglichst sicheren Einblick ein" (Kropff, WPg 1966, S. 369 (372)).
Zwischen diesen beiden Literaturmeinungen, die einerseits eine missbräuchliche Auslegung verbieten, andererseits eine Auslegung nach dem Sinn und Zweck des Wahlrechts fordern, besteht nach der hier vertretenen Auffassung kein grundlegender Widerspruch, denn eine Auslegung entgegen dem Sinn und Zweck einer Vorschrift ist zugleich auch eine missbräuchliche Auslegung und umgekehrt.
Andere Autoren (vgl. Döllerer, BB 1965, S. 1405 (1411); Döllerer, BB 1966, S. 629 (630); Leffson, ZfbF 1979, S. 213ff.; Leffson (1987), S. 104f.) wiesen der Generalklausel eine größere Bedeutung zu. Leffson (ZfbF 1979, S. 213 (214)) etwa formuliert es derart: "Soweit lex specialis auslegungsbedürftig ist, greift die Generalnorm." Die von den Einzelvorschriften belassenen Spielräume sind danach so auszulegen, dass ein möglichst sicherer Einblick in die VFE-Lage des UN vermittelt wird. Allerdings wird von diesen Autoren nicht geklärt, ob die Generalnorm bei sämtlichen Spielräumen heranzuziehen ist bzw. bei welchen Spielräumen die Generalnorm ausnahmsweise nicht zu beachten ist (vgl. zu der Diskussion über die Bedeutung der Generalnorm auch ADS (1997), § 264, Rn. 59).
Rn. 44
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Bezieht man die Auffassung, dass bei dem jeweiligen Spielraum stets so zu bilanzieren ist, dass der bestmögliche Einblick in die Lage des UN gewährt wird, auf sämtliche gesetzlichen Spielräume, d. h. auch auf gesetzlich eingeräumte Wahlrechte, so erscheint diese Auffassung sowohl für § 149 Abs. 1 Satz 2 AktG 1965 als auch für § 264 Abs. 2 als zu "rigoros". Wahlrechte, die vor der Verabschiedung des BilMoG eine Bilanzierungshilfe gewährten (vgl. §§ 269, 274 Abs. 2 (a. F.)), d. h. aus "bilanzfremden" Gründen gewährt wurden (vgl. Commandeur (1986), S. 32f.), durften demnach damals nur in Anspruch genommen werden, wenn sie mit der Generalnorm im Einklang standen. Solche Wahlrechte wurden und werden vom Gesetzgeber aber nicht mit dem Zweck gewährt, den Bilanzierenden einen Spielraum zu schaffen, damit sie im Einzelfall durch eine unterschiedliche Ausnutzung dieser Wahlrechte den geforderten Einblick in die Lage des UN vermitteln können. Mit den Bilanzierungshilfen hatte der Gesetzgeber den Bilanzierenden vielmehr Wahlrechte unabhängig davon eingeräumt, ob ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der VFE-Lage entsteht. Eine Einschränkung bzw. völlige Aufhebung solcher Wahlrechte durch die Generalnorm würde den Absichten des Gesetzgebers nicht entsprechen. Das räumt auch Leffson ((1987), S. 83) ein, der die Ausnutzung solcher Wahlrechte nicht durch die Generalnorm begrenzt sieht, allerdings eine Erläuterung der jeweiligen Ausnutzung für geboten hält. Das gleiche wie für die Bilanzierungshilfen galt auch für Wahlrechte, die, um steuerliche Nachteile zu verhindern, die umgekehrte Maßgeblichkeit, d. h. die Auswirkung rein steuerrechtlicher Vorschriften in der HB, zuließen (vgl. §§ 254, 280 Abs. 2 und 281 Abs. 1 (a. F.)).
Daneben gibt es aber auch heute noch gesetzliche Regelungen, wie die Wahl der AfA-Methode nach § 253 Abs. 3 und die Ermittlung der HK gemäß § 255 Abs. 2, die dem Bilanzierenden einen Spielraum belassen, um im Einzelfall einerseits die Einzelvorschriften, andererseits aber gleichzeitig die Forderung der Generalnorm erfüllen zu können. In § 253 Abs. 3 wird z. B...