Dr. Alfred Simlacher, Dr. Stephan Vossel
I. Internationale Bedeutung
Rn. 1
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
In der anglo-amerikanischen Bilanzierungspraxis haben latente Steuern eine lange Tradition (vgl. HdJ, Abt. I/18 (2019), Rn. 1) und gelten als unverzichtbares Element einer RL, die auf die zutreffende Darstellung der Vermögenslage und die periodengerechte Erfolgsabgrenzung i. S. d. "matching principle" abstellt. Dies umso mehr, als angelsächsische Länder vielfach ein Maßgeblichkeitsprinzip deutscher Prägung (vgl. HdR-E, Kap. 3) nicht kennen und somit Divergenzen zwischen Handels- und Steuerrecht in erheblichem Umfang auftreten. Im internationalen Kontext sind die Regelungen zur Bilanzierung von latenten Steuern nach US-amerikanischen (vgl. ASC 740) und internationalen (vgl. IAS 12) RL-Standards daher sehr einflussreich.
Rn. 2
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Zu Beginn des neuen Jahrtausends haben die IFRS und damit das Konzept zur Bilanzierung von latenten Steuern nach IAS 12 nochmals erheblich an Bedeutung gewonnen. Diese Entwicklung ist u. a. darauf zurückzuführen, dass kap.-marktorientierte UN mit Sitz in einem Mitgliedstaat der EU seit dem 01.01.2005 zur Aufstellung eines KA nach IFRS verpflichtet sind (vgl. Art. 4 der sog. IAS-VO (EG) Nr. 1606/2002 (ABl. EG, L 243/1ff. vom 11.09.2002)). Darüber hinaus erlangten die IFRS in zahlreichen Ländern einen hohen Stellenwert, weil sie sich als RL-Grundsätze in den lokalen Abschlüssen (EA bzw. HB I) durchsetzten und insoweit sich (auch) latente Steuern in diesen RL-Welten etabliert haben. Beachtenswert ist zudem, dass das nach IFRS ermittelte Ergebnis in einigen Jurisdiktionen als Ausgangsgröße für die ertragsteuerliche Gewinnermittlung dient und damit eine wesentliche Grundlage der ertragsteuerlichen Bemessungsgrundlage darstellt.
Rn. 3
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Die Umsetzung der von der OECD (2022) veröffentlichten Regelungen zu "Pillar Two – Tax Challenges Arising from the Digitalisation of the Economy" in vielen Jurisdiktionen wird ferner dazu führen, dass die IFRS in den kommenden Jahren einen größeren Einfluss auf die Besteuerung von UN erlangen. Sollten neben der Relevanz der IFRS für Zwecke der Mindestbesteuerung nationale Besteuerungsregime darüber hinaus für Zwecke der Ertragsbesteuerung umfassend auf die Regelungen der IFRS zurückgreifen, könnte dies die gegenwärtig bestehenden Abweichungen zwischen Handels- und Steuerrecht verringern oder gänzlich beseitigen. Gleichwohl ist es sehr wahrscheinlich, dass latente Steuern trotz internationaler Konvergenzbestrebungen integraler Bestandteil aller RL-Standards weltweit bleiben werden.
II. Nationale Bedeutung
Rn. 4
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
In früheren Dekaden war die HB über das Maßgeblichkeitsprinzip, das auch heute noch Geltung hat, sowie über die sog. umgekehrte Maßgeblichkeit eng mit der StB verzahnt. Die umgekehrte Maßgeblichkeit stellte sicher, dass das Vorgehen in der HB den steuerlichen Anforderungen genügte. Diese Verknüpfung ermöglichte weitgehend eine einheitliche Behandlung von Geschäftsvorfällen in der HB und StB und schuf die Voraussetzung zur Aufstellung einer sog. Einheitsbilanz. Wegen der geringen Anzahl an Unterschieden in den beiden RL-Welten spielten latente Steuern nur eine untergeordnete Rolle. Mit dem Bilanzrichtlinien-Gesetz (BiRiLiG) vom 19.12.1985 (BGBl. I 1985, S. 2355ff.) wurde die Behandlung von latenten Steuern erstmals im deutschen Bilanzrecht gesetzlich kodifiziert. Die Notwendigkeit zeigte sich u. a. an der zunehmenden Abkoppelung der StB von handelsrechtlichen RL-Grundsätzen, etwa durch das Verbot des Ansatzes von Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften (vgl. § 5 Abs. 4a EStG). Die häufig fiskalisch motivierten Änderungen der steuerbilanziellen Vorschriften zogen immer mehr Unterschiede zwischen HB und StB nach sich. Aufgrund des im Vergleich zur HB tendenziell früheren Gewinnausweises in der StB stellte sich in der Folgezeit jedoch regelmäßig ein Überhang aktiver latenter Steuern ein, dessen Aktivierung üblicherweise unterblieb (vgl. Herzig (2001), S. 109 (111)).
Rn. 5
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Das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG) vom 25.05.2009 (BGBl. I 2009, S. 1102ff.) stellte eine Zäsur der handelsrechtlichen RL dar. Zahlreiche Regelungen des HGB wurden grundlegend überarbeitet. In Anlehnung an die internationale RL wurde bspw. der Ansatz von selbst geschaffenen immateriellen VG des AV (vgl. § 248 Abs. 2 Satz 1) gestattet und die Bewertung des Deckungsvermögens zu beizulegenden Zeitwerten (vgl. § 253 Abs. 1 Satz 4) sowie dessen Verrechnung mit den Altersversorgungsverpflichtungen eingeführt (vgl. § 246 Abs. 2 Satz 2). Um eine entsprechende Behandlung in der StB auszuschließen, wurden flankierende steuerliche Neuregelungen aufgenommen, wie etwa das Verbot der Aktivierung selbst geschaffener immaterieller WG des AV (vgl. § 5 Abs. 2 EStG) oder das Verbot der Verrechnung von Posten der Aktivseite mit Posten der Passivseite (vgl. § 5 Abs. 1a Satz 1 EStG). Zudem wurde die umgekehrte Maßgeblichkeit aufgegeben, welche die Ausübung steuerrechtlicher W...