Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Baetge, Dr. Dirk Fey
Rn. 18
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Die GoB wurden im Jahre 1897 in die noch heute wörtlich für Buchführung und Inventar geltende Generalnorm (vgl. § 238 Abs. 1 Satz 1) des damaligen HGB eingefügt. Damals wollte der Gesetzgeber durch einen Verweis auf die "Gepflogenheiten sorgfältiger Kaufleute" erstmals die RL an einen übergeordneten Maßstab binden (vgl. Reichs-Justizamt (1896), S. 45). Da seit der Entstehung des GoB-Begriffs die Vorstellungen des Gesetzgebers von einer ordnungsmäßigen RL in einer Vielzahl von kodifizierten Vorschriften erheblich klarere Konturen gewonnen haben, sind die GoB heute nicht mehr als Verweis auf die RL-Praxis zu verstehen (vgl. Leffson (1987), S. 133ff.). Vielmehr sind heute die gesetzesadäquate Auslegung der kodifizierten Vorschriften und die in den kodifizierten Vorschriften unmittelbar oder mittelbar zum Ausdruck kommenden Gesetzeszwecke für die inhaltliche Ausfüllung der GoB maßgeblich (vgl. Moxter, AG 1979, S. 141 (144f.); Moxter, in: FS RFH/BFH (1993), S. 533f.; ADS (1995), § 243, Rn. 14ff.). Dabei ist der Versuch, aus dem gemeinsamen Inhalt und dem sich daraus ergebenden Gesamtbild der gesetzlichen Vorschriften die Zwecke der RL zu ermitteln, die das Gesetz durch die ausdrückliche Erwähnung der GoB in der Generalnorm des § 243 Abs. 1 realisiert sehen wollte, nicht unproblematisch. Denn die meisten gesetzlichen Vorschriften treffen zwar eine Regelung für bestimmte RL-Tatbestände, legen aber nicht die Zwecke offen, die mit jeder einzelnen Regelung erzielt werden sollen (vgl. Mellwig, BB 1983, S. 1613 (1615)). Daher sind in der Literatur sowohl über die Zwecke einzelner Vorschriften als auch über die RL-Zwecke insgesamt und deren Gewichtung höchst unterschiedliche Auffassungen vertreten worden (vgl. Fey (1987), S. 60ff., sowie Jüttner (1993), S. 42ff., und die dort enthaltenen gegensätzlichen Ansichten, jeweils m. w. N.). Auch die inzwischen große Zahl der kodifizierten Einzelvorschriften ändert daran wenig, weil die Anforderungen an die JA aller bilanzierenden Kaufleute nach Darstellung der Gesetzesverfasser nicht gesteigert werden sollten (vgl. BT-Drs. 10/4268, S. 96) und die Vorschriften in ihrem Gesamtbild gleichzeitig mehreren nicht exakt gewichteten Zwecken dienen (vgl. Havermann, WPg 1988, S. 612f.). Das wird schon in dem Abschn. über die Buchführung (vgl. §§ 238–241a) deutlich.
Rn. 19
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Gewonnen und ausgelegt werden die GoB grds. entweder mit der induktiven, der deduktiven oder der hermeneutischen Methode (vgl. Bonner HGB-Komm. (2018), § 243, Rn. 27; EBJS (2020), § 243 HGB, Rn. 2f.). Bei der v.a. im älteren Schrifttum diskutierten induktiven Methode wird von den Gepflogenheiten der Praxis auf (einen) GoB geschlossen (vgl. ADS (1995), § 243; Rn. 12, Steinbach, ZfbF 1973, S. 1 (2)). Die induktive Methode wird im Schrifttum regelmäßig abgelehnt, da die subjektiven Interessen der Praxis, d. h. der Kaufleute, berücksichtigt werden. Die Kaufleute könnten ihre subjektiven Interessen missbräuchlich in den Vordergrund stellen (vgl. Schneider, StuW 1983, S. 141; HdJ, Abt. I/2 (2010), Rn. 20; HdR-E, HGB § 243, Rn. 10).
Rn. 20
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Bei der deduktiven Methode werden die GoB aus den Zwecken der Buchführung und des handelsrechtlichen JA hergeleitet. Dabei ist zwischen der betriebswirtschaftlich und handelsrechtlich deduktiven Methode zu unterscheiden. Die betriebswirtschaftlich deduktive Methode ist nicht für die Gewinnung und Auslegung der GoB geeignet, da kein allg. anerkanntes, eindeutiges und widerspruchfreies betriebswirtschaftliches Zwecksystem existiert (vgl. ADS (1995), § 243; HdJ, Abt. I/2 (2010), Rn. 21). Im Gegensatz zur betriebswirtschaftlich deduktiven Methode geht die handelsrechtlich deduktive Methode von den aus dem Gesetz herausgefilterten Zwecken des handelsrechtlichen JA aus, um die GoB zu gewinnen (vgl. HdJ, Abt. I/2 (2010), Rn. 22; Baetge/Kirsch/Thiele (2021), S. 106). Die Bilanzierungsweisen werden mit Hilfe des handelsrechtlichen Zwecksystems analysiert. Problematisch ist, dass die gesetzlichen Buchführung- und JA-Zwecke weder eindeutig noch widerspruchsfrei sind, da die Zwecke den vom Gesetzgeber gewünschten Interessenausgleich zwischen den verschiedenen JA-Adressaten (Interessenregelung) widerspiegeln. Zudem sind inzwischen zahlreiche GoB kodifiziert, so dass der Auslegung der kodifizierten GoB eine höhere Bedeutung als der Gewinnung von GoB zukommt. Auch die handelsrechtliche Deduktion – zumindest als alleinige Methode – ist nicht dazu geeignet, kodifizierte GoB auszulegen und nicht kodifizierte GoB zu gewinnen (vgl. Moxter (2003), S. 12; Baetge/Kirsch/Thiele (2021), S. 105ff.).
Rn. 21
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Somit ist es zweckmäßig, auch für die Gewinnung und Auslegung der GoB die in der Rspr. übliche Auslegungsmethode für gesetzliche Normen, die hermeneutische Methode, anzuwenden (vgl. ADS (1995), § 243, Rn. 20; HdR-E, Kap. 4, Rn. 18; Beisse, BFuP 1990, S. 505ff.). Bei der hermeneutischen Methode bilden die gesetz...