Rn. 78
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Bei den Schätzverfahren wird der Gesamtwert der untersuchten Grundgesamtheit geschätzt (Repräsentationsschluss). Die Gruppe der Schätzverfahren kann grundlegend in die freien Mittelwertverfahren (einfach oder geschichtet) und die gebundenen Verfahren (Differenz-, Verhältnis-, Regressionsschätzung) unterteilt werden (vgl. Bönte (1983), S. 39; Bonner-HdR (2020), § 241 HGB, Rn. 20ff.): Bei der sog. freien Hochrechnung ist das Vorhandensein einer Bestandsfortschreibung nicht erforderlich (vgl. de Vries, DB 1981, S. 1245 (1246)). Bei den gebundenen Schätzverfahren wird eine Bestandsfortschreibung vorausgesetzt. Der Vergleich des geschätzten Gesamtwerts mit dem Wert laut Lagerbuchführung führt bei den Schätzverfahren i. d. R. zu einer Inventurdifferenz (vgl. Steinecke/Weinrich, WPg 1980, S. 385 (394f.).
Da die Grundgesamtheit Nullpositionen enthalten kann, ist die Anwendung des insbesondere im angelsächsischen Raum weit verbreiteten Dollar-Unit-Verfahrens (vgl. Beck Bil-Komm. (2022), § 241 HGB, Rn. 11; Deindl, BB 1982, S. 1585ff.; Quick (1991), S. 329ff.) bzw. allg. Verfahren des Monetary-Unit-Samplings (vgl. Grimm (1988), S. 173ff.; Haufe HGB-Komm. (2021), § 241, Rn. 5; EBJS (2020), § 241 HGB, Rn. 5), bei dem Nullpositionen nicht in die Stichprobe gelangen können und es sich somit um ein Zufallsstichprobenverfahren mit ungleichen Auswahlwahrscheinlichkeiten handelt (vgl. Puzicha-Neubeiser (1997), S. 13), grds. nicht gestattet. Dies gilt nicht, falls für die Nullpositionen ein separates Erhebungsverfahren eingesetzt wird (vgl. HFA 1/1981, WPg 1990, S. 649 (652)).
Rn. 79
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Bei der freien Hochrechnung (Mittelwertschätzung) wird aufgrund des Mittelwerts der in der Stichprobe enthaltenen Positionen auf den Gesamtwert der Grundgesamtheit geschlossen. Dies geschieht, indem der Stichprobenmittelwert mit der Anzahl aller Lagerpositionen multipliziert wird, um zum Gesamtinventurwert des Lagerkollektivs zu gelangen (vgl. Quick (1991), S. 340). Aufgrund der Vorgabe für die Aussagesicherheit und des max. zulässigen Fehlers lässt sich der Mindeststichprobenumfang ermitteln. Hierbei geht man i. d. R. von einer Aussagesicherheit von 95 % und einem max. Fehler von 1 % aus. Eine Aussagesicherheit von 95 % bedeutet, dass im Durchschnitt von 100 Inventuren 95 die geforderten Kriterien erfüllen. Der Mindeststichprobenumfang wird entscheidend von der Varianz der Grundgesamtheit bestimmt und ist unabhängig von der Größe des Lagers.
Rn. 80
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Vielfach kann eine Reduktion der Varianz und damit des Stichprobenumfangs durch eine Schichtung der Grundgesamtheit erreicht werden (geschichtete Mittelwertschätzung; vgl. AWV (1979); Bellinger, DSWR 1977, S. 3 (7ff.); Drexl, DBW 1985, S. 693 (694ff.)). Damit die Varianz reduziert wird, sollte die Grundgesamtheit – in Bezug auf das Schätzmerkmal – in möglichst homogene Schichten eingeteilt werden. Das Schätzmerkmal für die Inventur ist eine Wertgröße (vgl. Domschke/Drexl, in: FS Henn (1987), S. 266 (267ff.)). Aus den gebildeten Schichten werden anschließend gesonderte Stichproben gezogen, um die jeweiligen Inventurwerte der in die Stichproben einbezogenen Lagerpositionen zu ermitteln. Ausgehend von den durchschnittlichen Inventurwerten der Schichten wird der durchschnittliche Inventurwert je Lagerposition des Lagerkollektivs errechnet. Der Gesamtinventurwert des Lagerkollektivs ergibt sich sodann durch Multiplikation des durchschnittlichen Inventurwerts je Lagerposition mit der aus der Lagerbuchführung zu entnehmenden Anzahl der Lagerpositionen (vgl. Bruse et al., StBp 1988, S. 101 (107f.); HFA 1/1981, WPg 1990, S. 649 (652)).
Rn. 81
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Die Schichtenzahl sollte jedoch nicht zu groß gewählt werden, da eine gewisse Mindeststichprobe je Schicht eingehalten werden sollte (vgl. HFA 1/1981, WPg 1990, S. 649 (653); Nies, StBp 1975, S. 73 (76)). Die Mindeststichprobe ist erforderlich, um die grundlegende Normalverteilungsannahme aufrechterhalten zu können. Die (approximative) Normalverteilung wird bei der Ermittlung der Maßzahlen des statistischen Verfahrens (z. B. Stichprobenmittelwert, Genauigkeit etc.) unterstellt (vgl. Jaspers (1994), S. 41ff.).
Rn. 82
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Treten zwischen der Ziehung der Stichprobe und dem Zählzeitpunkt Veränderungen in der Grundgesamtheit auf, z. B. Lagerbewegungen, so kann es zu sog. Schichtenspringern kommen. Von einem Schichtenspringer spricht man, wenn ein Stichprobenelement zum Zeitpunkt der Ziehung zu einer anderen Schicht gehört als zum Zeitpunkt der Zählung. Dieses Problem tritt v.a. bei der permanenten Inventur auf (vgl. auch Bauer/Heller, WPg 1981, S. 107 (108)). Um die Zahl der Schichtenspringer möglichst gering zu halten, sollten der Ziehungszeitpunkt und die körperliche Aufnahme möglichst eng beieinander liegen. Werden Schichtenspringer erwartet, empfiehlt es sich, die Stichproben je Schicht leicht zu erhöhen, um zu verhindern, dass die Aussagesicherheit...