Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Baetge, Dr. Boris Hippel
Rn. 23
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
§ 264 Abs. 2 fordert ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild sowohl von der Vermögenslage als auch von der Finanzlage als auch von der Ertragslage des UN. Zur Vereinfachung werden die Begriffe der VFE-Lage teilweise auch unter dem Begriff "wirtschaftliche Lage" oder "wirtschaftliche Verhältnisse" eines UN zusammengefasst (vgl. Baetge, in: HWRev (1992), Sp. 2086 (2093); Coenenberg/Schönbrodt, in: HWRev (1992), Sp. 476f.). Da die Differenzierung nach der VFE-Lage aber mit dazu beiträgt, die Wertungen des Gesetzgebers in der Generalnorm für den JA der KapG besser herauszuarbeiten, ist bei der Analyse der Generalnorm auf die vereinfachende Zusammenfassung der Lagen zu verzichten.
Rn. 24
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Für die Darstellung der VFE-Lage im JA besteht keine Rangfolge. Die VFE-Lage ist auch nicht voneinander unabhängig. Insbesondere bei einer Betrachtung im Zeitverlauf zeigt sich, dass sie sich gegenseitig beeinflussen. Die Ertragslage wirkt sich z. B. auf die Zusammensetzung und Höhe des Vermögens sowie des Kap. und damit auf die Vermögens- und Finanzlage aus. Umgekehrt hängt die künftige Ertragslage von der Vermögenslage ab, die neben anderen Faktoren, wie dem Potenzial an Arbeitskräften, die Grundlage für die Wettbewerbsfähigkeit und damit für die künftigen Gewinne des UN bildet. Die Ertragslage beeinflusst auch die Finanzlage des UN, denn wesentliche Voraussetzung für das finanzielle Gleichgewicht des UN ist die Fähigkeit, Gewinne zu erwirtschaften.
Die internationale Angleichung der Bilanzierungsmethoden führt zunehmend zu einer veränderten Gewichtung der VFE-Lage, insbesondere was das Zahlenwerk in Bilanz und GuV betrifft. Aufgrund des trotz der Gleichrangigkeit der VFE-Lage bei der Aufstellung von Bilanz und GuV im deutschen Bilanzrecht stark zu beachtenden Gläubigerschutzes (Kap.-Erhaltung) gewinnt eine periodengerechtere Darstellung der Ertragslage im JA zunehmend an Bedeutung. Kap.-marktorientierte UN sind verpflichtet, ihren KA nach den Vorschriften der IFRS zu erstellen.
Wenngleich für die Beurteilung von UN der KA im Vordergrund steht, findet diese Entwicklung auch Niederschlag in den JA. In den JA wirkt sich darüber hinaus die z. T. restriktive steuerliche Anerkennung von Rückstellungen und AfA aus (z. B. bezüglich der Rückstellungen für Umweltrisiken, Jubiläumsrückstellungen sowie der Rückstellungen für Abfindungsansprüche von noch ungekündigten Handelsvertretern, die aber bei ihrem Ausscheiden einen Abfindungsanspruch gemäß § 89b haben). Die fehlende steuerliche Abzugsmöglichkeit führt auch in der HB i. R.d. bestehenden Spielräume tendenziell weg von einer z. T. zu vorsichtigen Darstellung und damit auch Übergewichtung der Vermögenslage. Dies darf allerdings in den Fällen, in denen eine handelsrechtliche Rückstellungspflicht besteht, nicht von den steuerlichen Regelungen beeinflusst werden. Durch den Wegfall der umgekehrten Maßgeblichkeit infolge des BilMoG wurden aber neue Spielräume eröffnet.
Rn. 25
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Um den Einblick in die VFE-Lage für den Abschlussleser zu sichern, sind die JA von mittelgroßen und großen KapG vor der Feststellung durch einen AP zu prüfen (vgl. § 316 Abs. 1). In seinem BV hat der AP gemäß § 322 ausdrücklich zu erklären, ob der JA unter Beachtung der GoB ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der VFE-Lage des UN vermittelt. Dies unterstreicht die Bedeutung, die der Generalnorm des § 264 Abs. 2 auch bei der JA-Prüfung zukommt (vgl. Commandeur (1988), S. 130ff.).