Prof. Dr. Peter Oser, Dr. Peter Lauer
Rn. 1
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Die Aufstellung handelsrechtlicher JA ist kein Selbstzweck, sondern dient einer Vielzahl von Zwecken. Welche konkreten Zwecke mit der Aufstellung eines handelsrechtlichen JA verbunden sind, hat insbesondere Bedeutung für die deduktive Gewinnung von GoB (vgl. HdR-E, Kap. 4, Rn. 12ff.). So kann erst entschieden werden, welche Ansatz- und Bewertungsregeln zweckgerecht sind, wenn feststeht, welche Zwecke mit der RL verfolgt werden sollen. Hierüber besteht allerdings in der betriebswirtschaftlichen Literatur keine Einigkeit. Je nach zugrunde liegender Bilanzauffassung werden unterschiedliche Zwecke genannt, weshalb sowohl über Anzahl – Stützel (ZfB 1967, S. 314ff.) nennt bspw. insgesamt zehn JA-Zwecke – als auch über die relative Bedeutung der einzelnen Zwecke verschiedene Meinungen bestehen. Darüber hinaus wird z. T. zwischen Ziel und Zweck (vgl. Schneider, StuW 1983, S. 141ff.) und weiter noch zwischen Motiv und Grund (vgl. Seicht (1982), S. 35ff.) der RL unterschieden.
Rn. 2
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Im Folgenden soll skizziert werden, welche Zwecke der gesetzlichen Verpflichtung zur Aufstellung eines handelsrechtlichen JA zugrunde liegen. Die Darstellung beschränkt sich dabei auf die wichtigsten der zahlreichen in der Literatur diskutierten Zwecke: Dokumentation, Selbstinformation, Rechenschaft und Zahlungsbemessung – ohne den Versuch einer Systematisierung zu unternehmen. Hierbei ist zu beachten, dass in Abhängigkeit von der Rechtsform eines Kaufmanns und ihres unterschiedlichen Adressatenkreises sowohl die Zwecke des JA als auch deren relative Bedeutung divergieren. Dies gälte gleichermaßen bei einer Differenzierung zwischen den Zwecken der Bilanz als einem einzelnen Element des JA und den Zwecken des JA insgesamt. Während die handelsrechtliche Bilanz bspw. für die – naturgemäß vorrangig quantitativ orientierte – Ausschüttungsbemessung entscheidend ist, können die Anforderungen hinsichtlich der externen Rechenschaftslegung zumindest partiell auch mit Hilfe des Anhangs – und ggf. des Lageberichts – erfüllt werden (vgl. auch Beisse, StuW 1984, S. 1 (7)).
Rn. 3
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Das Handelsrecht enthält in dem für die RL maßgeblichen Dritten Buch des HGB keine explizite Kodifizierung von JA-Zwecken oder -Adressaten. Für alle Kaufleute ist lediglich in § 242 geregelt, dass die Bilanz das Verhältnis des Vermögens und der Schulden (Abs. 1) sowie die GuV die der Aufwendungen und Erträge des GJ (Abs. 2) darstellen soll. Dabei ist der sich zunächst aus diesen Bestandteilen zusammensetzende JA (vgl. zu den weiteren Bestandteilen § 264 Abs. 1) wie die Buchführung allg. in seiner Gestaltung und Informationstiefe an dem Vorverständnis eines sachverständigen Dritten auszurichten (vgl. § 238 Abs. 1 Satz 2). Daher müssen die fraglichen Gesetzestexte und Begründungen mit Blick auf vom Gesetzgeber adressierte Personen(-gruppen) und intendierte Zwecke gedeutet werden (vgl. auch Leffson (1987), S. 31ff.; Baetge/Kirsch/Thiele (2021), S. 91f.).
Im Schrifttum lassen sich als Adressaten des handelsrechtlichen JA neben den – aktuellen und potenziellen – Gläubigern und Anteilseignern, die Ansprüche auf vertraglich festgelegte oder vom Periodenerfolg abhängige Zahlungen haben, auch die UN-Leitung, die AN, der Staat und andere Personen oder Gruppen ohne einen aus dem JA abgeleiteten Zahlungsanspruch identifizieren sowie indirekt die Finanzverwaltung (vgl. hierzu etwa Wöhe (1997), S. 41). Derweil werden den Anteilseignern als den Shareholdern die Stakeholder als Sammelbegriff für sämtliche Personen gegenübergestellt, die die Bestrebungen eines UN, seine Ziele zu erreichen, beeinflussen können und/oder von diesen beeinflusst werden (vgl. ausführlich zu diesen Begrifflichkeiten Skrzipek (2005), S. 9ff.).
Rn. 4
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
In die Untersuchung der Zwecke des JA gilt es einzubeziehen, dass die Gewichtung der einzelnen Adressaten bzw. Ziele im Zeitablauf Veränderungen unterworfen ist bzw. sein kann, die sich ihrerseits entsprechend in der konkreten Gesetzgebung niederzuschlagen vermag. Dies konnte zuletzt beim sog. Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG) vom 25.09.2009 (BGBl. I 2009, S. 1102ff.) beobachtet werden (vgl. zu einem Überblick über die Gesetzesänderungen Oser et al., WPg 2009, S. 573ff.), das auf eine deutliche Stärkung der Informationsfunktion des JA zielte. Vor diesem Hintergrund ist auch die weitere Entwicklung hinsichtlich des Verhältnisses von HB zu Steuer- und IFRS-Bilanz zu sehen.