Dr. Eberhard Mayer-Wegelin, Prof. Dr. Harald Kessler
Rn. 284
Stand: EL 19 – ET: 05/2014
Neben dem Gebot der Einzelbewertung enthält § 252 Abs. 1 Nr. 3 die Forderung nach einer Bewertung der VG und Schulden zum Abschlussstichtag. Das hierin zum Ausdruck kommende Stichtagsprinzip begrenzt die der Rückstellungsbewertung zugrunde zu legenden Daten in zeitlicher Hinsicht. Es verlangt eine Wertbemessung nach den Verhältnissen, wie sie sich am jeweiligen BilSt aus der Sicht eines sorgfältigen und gewissenhaften Kaufmanns darstellen. Was darunter zu verstehen ist, wird unterschiedlich beantwortet. Das gilt insb. für die Frage, inwieweit der zwischen BilSt und Aufstellung der Bilanz eintretende Erkenntniszuwachs auf den BilSt zurückzubeziehen ist. Hierzu werden i. W. zwei Auffassungen vertreten: Nach dem stichtagsperspektivischen Erklärungsansatz sind nur solche zukünftigen Entwicklungen bei der Bilanzierung und Bewertung zu berücksichtigen, die bei angemessener Sorgfalt am BilSt voraussehbar waren. Mit ihm konkurriert der objektive Erklärungsansatz. Er zielt auf die Erfassung der tatsächlichen Vermögensverhältnisse des Kaufmanns am BilSt ab, die durch Ausschöpfung aller bis zur Aufstellung des JA zusätzlich gewonnenen Erkenntnisse aufzuklären sind. Auf die Vorhersehbarkeit der nachträglich bekannt gewordenen Umstände aus Sicht des BilSt kommt es nicht an. Der Wortlaut des § 252 Abs. 1 Nr. 4 scheint die erstgenannte Auslegungsvariante zu stützen; verlangt die Vorschrift doch die Berücksichtigung aller "vorhersehbaren" Risiken und Verluste. Allerdings ist die Formulierung nicht abschließend, wie das vorangestellte "namentlich" verdeutlicht. Zudem sollen die bis zum Abschlussstichtag entstandenen Risiken und Verluste auch dann im Abschluss zu erfassen sein, wenn sie erst nachträglich bekannt geworden sind, also am BilSt noch nicht zu erkennen waren. Die reine Wortlautinterpretation bleibt damit eher unergiebig.
Rn. 285
Stand: EL 19 – ET: 05/2014
Nach der hier vertretenen Auffassung kommt beiden Auslegungsvarianten eine jeweils begrenzte Bedeutung zu. Man wird wie folgt differenzieren müssen: Der Kenntnisstand und Erwartungshorizont im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung, mithin das objektive Stichtagsverständnis, sind immer dann maßgeblich, wenn es um die Beantwortung von Bilanzierungsfragen geht, die einer objektiven Beurteilung zugänglich sind. Dazu gehören die Frage nach dem wahrscheinlichen Bestehen oder Nichtbestehen einer ungewissen Schuld am BilSt oder das einer Ansammlungsrückstellung zugrunde zu legende Mengengerüst. Bei ihrer Beantwortung sind alle bis zur Aufstellung des JA zugegangenen Informationen auszuwerten, die ein genaueres Bild der tatsächlichen Vermögensverhältnisse am Stichtag vermitteln. Das betrifft entgegen der systematischen Einordnung des Wertaufhellungsgedankens in § 252 Abs. 1 Nr. 4 nicht nur wert-, sondern auch ansatzerhellende Umstände. Aufgrund des einleitenden "namentlich" ist auch der Hinweis auf Risiken und Verluste nur beispielhaft zu verstehen. In gleicher Weise hat der Bilanzierende positive oder neutrale erhellende Informationen in die Bilanzierungsentscheidung einzubeziehen.
Rn. 286
Stand: EL 19 – ET: 05/2014
Der objektive Ansatz verlangt nach einer Unterscheidung von (berücksichtigungspflichtigen) ansatz- bzw. werterhellenden und (bilanziell unbeachtlichen) ansatz- bzw. wertbegründenden Umständen. Während erhellende Informationen bessere Erkenntnisse über die objektiven Vermögensverhältnisse am Abschlussstichtag vermitteln, sind ansatzbegründende Umstände Ausdruck einer nachträglichen Änderung des Schuldenstands. Letztere liegen bspw. vor, wenn durch Entwicklungen nach dem Stichtag neue Verpflichtungen begründet werden oder ursprünglich vorhandene Schulden wegfallen. Ein nicht auf den BilSt zurückzubeziehendes Ereignis hat der BFH in der Aufhebung eines zu Lasten des Bilanzierenden unausgewogenen Vertrags nach dem Stichtag gesehen (vgl. BFH-Urt. v. 17.11.1987, BStBl. II 1988, S. 430f.). Entspr. gilt, wenn eine streitbefangene Verbindl. in der Zeit zwischen BilSt und Aufstellung der Bilanz durch ein rechtskräftiges Urteil, durch den Verzicht des Gläubigers auf die Einlegung von Rechtsmitteln oder im Zug eines mit dem Gläubiger geschlossenen Vergleichs ganz oder teilw. wegfällt (vgl. BFH-Urt. v. 30.01.2002a, BStBl. II 2002, S. 688; v. 27.11.1997, BStBl. II 1998, S. 375).
Rn. 287
Stand: EL 19 – ET: 05/2014
Der stichtagsperspektivische Erklärungsansatz kommt demgegenüber zum Tragen, wenn das Gesetz eine subjektive Wertschätzung des Kaufmanns verlangt. Das betrifft zahlreiche Bewertungsfragen bei Rückstellungen. Zu denken ist etwa an die Schätzung der Fluktuationsrate bei Gratifikations- oder Jubiläumszuwendungen. Sie ist nach den Erkenntnismöglichkeiten und dem Erwartungshorizont am Abschlussstichtag vorzunehmen. Eine Rückbeziehung nach dem BilSt gewonnener Informationen (z. B. zum tatsächlichen Kündigungsverhalten der Mitarbeiter) unter dem Aspekt der Wertaufhellung kommt nicht in Betracht. Dieser Rückbezug würde die vom Gesetz geforderte subje...