Dr. Dirk Fey, Prof. Dr. Henner Klönne
I. Allgemeine Kriterien zur Bestimmung der Vermerkpflicht
1. Grundsätzliche Überlegungen
Rn. 15
Stand: EL 39 – ET: 06/2023
Wie oben gezeigt (vgl. HdR-E, HGB § 251, Rn. 1), liegt der wesentliche Inhalt der gesetzlichen Angabepflicht von Haftungsverhältnissen darin, am Abschlussstichtag bestehende, aus der Bilanz nicht ersichtliche Risiken für die Vermögens- und Finanzlage aus vertraglichen Bindungen im JA zu zeigen. Entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob im Einzelfall ein Rechtsverhältnis im JA nach § 251 vermerkpflichtig ist oder nicht, sind zum einen folgende allg. Kriterien zu prüfen:
- erstens, ob es sich um Verpflichtungen handelt, die mangels Passivierung in der Bilanz in den Geltungsbereich des § 251 fallen (vgl. HdR-E, HGB § 251, Rn. 18ff.);
- zweitens, ob eine vorliegende Verpflichtung am Abschlussstichtag hinreichend rechtlich konkretisiert ist und nicht mit einem Anspruch auf eine Gegenleistung direkt verknüpft ist (vgl. HdR-E, HGB § 251, Rn. 21ff.);
- drittens, ob sich bei wirtschaftlicher Betrachtung aus einer bestehenden rechtlichen Bindung überhaupt ein Risiko ergeben kann (Gefahr einer künftigen Vermögensminderung); unmaßgeblich für die Vermerkpflicht ist, wie hoch dieses Risiko eingeschätzt wird (vgl. HdR-E, HGB § 251, Rn. 33f.);
- viertens, welchen Einfluss Üblichkeit, Quantifizierbarkeit ebenso wie betriebliche Veranlassung auf die Vermerkpflicht haben (vgl. HdR-E, HGB § 251, Rn. 35ff.).
Rn. 16
Stand: EL 39 – ET: 06/2023
Zum anderen muss geprüft werden, ob die aufgrund der allg. Kriterien vermerkpflichtigen Haftungsverhältnisse unter die speziellen Kriterien des § 251, also die dort genannten vier Fallgruppen, fallen (ggf. differenzierte Subsumtion für den getrennten Ausweis nach § 268 Abs. 7). Dabei muss auch eine Negativabgrenzung gegenüber sonstigen Haftungsverhältnissen und überhaupt nicht im JA zu erfassenden Verpflichtungen erfolgen (vgl. HdR-E, HGB § 251, Rn. 39ff.). Die zivilrechtliche Einordnung der Vertragsverhältnisse ist für die Beurteilung der Vermerkpflicht sekundär, weil nach dem Zweck der Vorschrift zu entscheiden ist, ob ein vertraglich begründetes Risiko vorliegt, nicht aber, ob formal eine Subsumtion erfolgen kann. Insbesondere die Auslegung des Auffangbegriffs der "Gewährleistungsverträge" ist primär aus bilanzrechtlicher, d. h. wirtschaftlicher Sicht zu interpretieren (vgl. zur Unabhängigkeit des Bilanzrechts vom Zivilrecht in diesem Fall schon ADS (1968), § 151 AktG, Rn. 304).
Rn. 17
Stand: EL 39 – ET: 06/2023
Am Schluss stehen Überlegungen zur Bewertung und zum Ausweis der Haftungsverhältnisse, die nach den allg. und speziellen Kriterien dem Grunde nach angabepflichtig sind (vgl. HdR-E, HGB § 251, Rn. 68ff.).
2. Nicht passivierte Verpflichtungen
Rn. 18
Stand: EL 39 – ET: 06/2023
Der Wortlaut des § 251 Satz 1 bestimmt, dass nur solche Haftungsverhältnisse außerhalb der Bilanz anzugeben sind, die nicht bereits passiviert wurden. Rückstellungen sind nach § 249 Abs. 1 Satz 1 zu bilden, soweit mit einer Inanspruchnahme aus bestehenden Rechtsverhältnissen ernsthaft zu rechnen ist (vgl. EBJS (2020), § 251 HGB, Rn. 1). Stehen Inanspruchnahme und Betrag fest, ist nach allg. Grundsätzen eine Verbindlichkeit anzusetzen. Eine Angabe erübrigt sich in diesen Fällen, weil dasselbe Risiko nicht zweimal im JA gezeigt werden soll.
Aus diesem Grund ist z. B. die Abtretung von Rechten aus Abnahmeverträgen an Gläubiger nicht vermerkpflichtig (vgl. Beck Bil-Komm. (2022), § 251 HGB, Rn. 5); eine Inanspruchnahme aus solchen Vereinbarungen kann regelmäßig nur insoweit erfolgen, als eine passivierungspflichtige Schuld entstanden ist. Anders kann der Sachverhalt allerdings zu beurteilen sein, wenn der Kreditgeber seine Rechte auch bei Ausfall anderer Schuldner (z. B. verbundener UN) geltend machen kann (vgl. ADS (1998), § 251, Rn. 74.). Eine Vermerkpflicht kommt auch nicht in Betracht, wenn ein MU gegenüber den Anleihezeichnern eines TU haftet und das TU die Mittel aus der Anleihe als Darlehen an das MU weitergereicht hat (vgl. ADS (1998), § 251, Rn. 77).
Rn. 19
Stand: EL 39 – ET: 06/2023
Eine Ausnahme vom Grundsatz der Nichtangabe passivierter Verpflichtungen bildet bei KapG und diesen gleichgestellten Gesellschaften die Angabepflicht der Haftungsverhältnisse zugunsten von Organmitgliedern nach § 285 Nr. 9 lit. c); unter die Angabepflicht dieser Vorschrift fallen auch passivierte Beträge, weil die Beziehungen einer solchen Gesellschaft zu ihren Entscheidungsträgern umfassend dargestellt sowie Umgehungen der Angabepflichten von Organkrediten verhindert werden sollen (vgl. Beck Bil-Komm. (2022), § 285 HGB, Rn. 337; Russ (1986), S. 223).
Rn. 20
Stand: EL 39 – ET: 06/2023
Irreführend ist der Wortlaut der Vorschrift ("sofern" sie nicht auf der Passivseite auszuweisen sind) für die Fälle, in denen nach § 253 Abs. 1 Satz 2 nur ein Teilbetrag einer Verpflichtung passiviert wird, weil nicht mit einer Inanspruchnahme in voller Höhe des vertraglich möglichen Haftungsumfangs zu rechnen ist. Nach h. M. muss der nicht passivierte Restbetrag unter der Bilanz angegeben werden, obwohl der Gesetzestext nicht "soweit" lautet (vgl. ADS (1998), § 25...