Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Baetge, Dr. Dirk Fey
I. Aufstellungsfrist nach Wortsinn, Bedeutungszusammenhang und Entstehungsgeschichte
Rn. 85
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Nach § 243 Abs. 3 ist der "Jahresabschluß innerhalb der einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entsprechenden Zeit aufzustellen." Durch den Wortsinn von § 243 Abs. 3 hat der Gesetzgeber für alle Kaufleute, für die keine spezialgesetzliche Regelung gilt, keine eindeutig festgelegte Frist zur Aufstellung handelsrechtlicher JA kodifiziert. Die Frist soll sich vielmehr nach dem Zeitraum bestimmen, der einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entspricht. Um diese unbestimmte Formulierung zu konkretisieren, können aus dem Bedeutungszusammenhang, v.a. den vergleichbaren Regelungen für KapG und diesen gleichgestellten Gesellschaften, Anhaltspunkte gewonnen werden.
Rn. 86
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Nach § 264 Abs. 1 Satz 3f. müssen große und mittelgroße KapG und PersG i. S. d. § 264a den um einen Anhang erweiterten JA sowie den Lagebericht innerhalb von drei Monaten nach dem Abschlussstichtag aufstellen, während kleine KapG bzw. Kleinst-KapG (vgl. § 267a Abs. 2) und ihnen gleichgestellte Gesellschaften ihren JA spätestens nach sechs Monaten fertigstellen müssen. Bei eG wurde die Frist auf fünf Monate festgelegt (vgl. § 336 Abs. 1 Satz 2). Für UN, die ihre JA nach dem PublG aufstellen, fordert § 5 Abs. 1 PublG eine Aufstellungsfrist von drei Monaten. Die Regelungen für Kreditinstitute sehen drei Monate (vgl. § 26 Abs. 1 KWG) und für Versicherungs-UN vier bzw. zehn Monate (vgl. § 341a Abs. 1, 5) vor (vgl. auch HdR-E, HGB § 264, Rn. 5).
Rn. 87
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Die Entstehungsgeschichte von § 243 Abs. 3 zeigt, dass bereits mehrmals versucht wurde, über die nur für bestimmte UN geltenden Spezialvorschriften hinaus eine generelle, für alle bilanzierenden Kaufleute geltende Obergrenze der Aufstellungsfrist festzulegen. So sollte 1974 i. R.d. Reform des Wirtschaftsstrafrechts durch das Erste Wirtschaftskriminalitätsgesetz (WiKG) eine Aufstellungsfrist von sechs Monaten für Einzelkaufleute und PersG in das HGB eingebracht werden. Diese Frist wurde indes im RegE des WiKG auf neun Monate verlängert und schließlich ersatzlos zugunsten der bereits in § 39 Abs. 2 Satz 2 HGB 1980 vorhandenen unbestimmten Formulierung gestrichen. Dort wurde bis auf redaktionelle Unterschiede ebenso wie jetzt in § 243 Abs. 3 auf die einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entsprechende Zeit verwiesen. Auch im Vorentwurf vom 05.02.1980 zur Transformation der 4. EG-R (78/660/EWG) war noch eine generelle Aufstellungsfrist von sechs Monaten vorbehaltlich kürzerer spezialgesetzlicher Regelungen vorgesehen. Außerdem sollten nicht offenlegungspflichtige UN diese Frist bis auf neun Monate ausdehnen können. Abweichend davon sollten nach § 39 Abs. 3 HGB-E alle Kaufleute vorbehaltlich anderer Regelungen oder besonderer Umstände den JA innerhalb von fünf Monaten nach dem BilSt aufstellen. Nach § 39 Abs. 3 HGB-E durfte der JA bei Fristverlängerung für die Steuererklärung auch später aufgestellt werden, soweit dies mit einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang und den Spezialvorschriften für bestimmte UN vereinbar war. In den endgültig kodifizierten § 243 Abs. 3 wurden diese Regelungen nicht übernommen, da die Rechtslage der Nicht-KapG durch die Transformation der 4. EG-R nicht verschärft werden sollte (vgl. BT-Drs. 10/4268, S. 97). Damit wollte der Gesetzgeber offensichtlich keine eindeutige Festlegung der Aufstellungspflicht für alle Kaufleute; schließlich verwendet(e) er dieselbe unbestimmte Formulierung wie in § 39 Abs. 2 Satz 2 HGB 1980. Die einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entsprechende Frist muss daher durch den JA-Ersteller und die Rspr. konkretisiert werden.
II. Aufstellungsfrist nach den Entscheidungen der Rechtsprechung
Rn. 88
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Die höchstrichterliche Rspr., und zwar sowohl die Finanz- als auch die Strafgerichtsbarkeit, hat in etlichen Entscheidungsfällen ihre Auffassung zur zulässigen Dauer der Aufstellungsfrist dargelegt. Die Urteile bieten jedoch ein wenig einheitliches Bild:
Der BFH hat sich nicht auf eine bestimmte Frist festgelegt, sondern im Einzelfall einen Aufstellungszeitraum von fünf (vgl. BFH, Urteil vom 05.03.1965, VI 154/63, BStBl. III 1965, S. 285f.), zweieinhalb (vgl. BFH, Urteil vom 12.12.1972, VIII R 112/69, BStBl. II 1973, S. 555ff.) und zwei Jahren (vgl. BFH, Urteil vom 25.04.1978, VIII R 96/75, BStBl. II 1978, S. 525f.) jeweils für nicht fristgerecht, eine Aufstellung innerhalb von zehn Monaten hingegen für rechtzeitig erachtet (vgl. BFH, Urteil vom 22.06.1967, IV 172/63, BStBl. II 1968, S. 5ff.). In "neueren" Urteilen tendiert der BFH zu einer Höchstfrist von einem Jahr (vgl. BFH, Urteil vom 25.04.1978, VIII R 96/75, BStBl. II 1978, S. 525f.; BFH, Urteil vom 28.10.1981, I R 115/78, BStBl. II 1982, S. 485ff.; BFH, Urteil vom 06.12.1983, VIII R 110/79, BStBl. II 1984, S. 227ff.; BFH, Urteil vom 08.03.1989, X R 9/89, BStBl. II 1989, S. 714ff.; BFH, Urteil vom 03.07.1991, X R 163 – 164/87, BStBl. II 1991, S. 802ff.).
Der BGH und das BVerfG setzen eine erheblich kürzere Frist. Der BGH betrachtet in der Krisensituation von UN eine Frist von sieben Monaten ...