Prof. Dr. Jens Poll, Ingrid Kalisch
I. Drohender Schaden (§ 71 Abs. 1 Nr. 1 AktG)
Rn. 33
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Der Erwerb eigener Aktien muss notwendig sein, um einen schweren, unmittelbar bevorstehenden Schaden von einer AG/KGaA/SE abzuwenden. An den Erwerb von eigenen Aktien zu diesem Zweck sind strenge Maßstäbe anzulegen (vgl. MünchKomm. AktG (2024), § 71 AktG, Rn. 112).
1. Schaden
Rn. 34
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Schaden ist i. S. d. §§ 249ff. BGB zu verstehen, es genügt also jede Vermögenseinbuße, auch Folgeschäden, insbesondere der entgangene Gewinn (vgl. Günther/Muche/White, RIW 1998, S. 337 (340); Hüffer-AktG (2024), § 71, Rn. 7).
Rn. 35
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Der Schaden muss eine AG/KGaA/SE selbst, nicht ihre Aktionäre oder einzelne von ihnen treffen (vgl. Hüffer-AktG (2024), § 71, Rn. 7; BFH, Urteil vom 16.02.1977, I R 163/75, DB 1977, S. 1170; Günther/Muche/White, RIW 1998, S. 337 (340)). Es ist jedoch nicht erforderlich, dass der Schaden die Existenz der Gesellschaft gefährdet. Er muss jedoch unter Berücksichtigung der Größe der Gesellschaft und ihrer Finanzkraft wesentlich sein.
Rn. 36
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Ein derartiger Schaden ist z. B. bei einem gezielten Baisseangriff gegen betreffende Gesellschaft denkbar, der eine Kreditgefährdung zur Folge hat (vgl. AktG-GroßKomm. (2018), § 71, Rn. 179; Hüffer-AktG (2024), § 71, Rn. 9). Dies gilt während laufender Verschmelzungsverhandlungen nur dann, sofern eine AG/KGaA/SE die aufnehmende Gesellschaft ist, da nur in diesem Falle ein ungünstiges Umtauschverhältnis einen Schaden für sie darstellen würde (vgl. Hüffer-AktG (2024), § 71, Rn. 9). Ist eine AG/KGaA/SE hingegen übertragende Gesellschaft oder erfolgt eine Verschmelzung durch Neugründung, so bewirkt das ungünstige Umtauschverhältnis mangels Fortbestands betreffender Gesellschaft einen Schaden nur bei deren Aktionären (vgl. KK-AktG (2011), § 71, Rn. 47).
Rn. 37
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Ob eine drohende feindliche Übernahme (früher häufig "Überfremdung" genannt) einen Schaden i. d. S. darstellen kann, wird kontrovers diskutiert (vgl. zum Meinungsstand AktG-GroßKomm. (2018), § 71, Rn. 181ff.; Klein, NJW 1997, S. 2085 (2087); Hüffer-AktG (2024), § 71, Rn. 9; Michalski, AG 1997, S. 152 (155); MünchKomm. AktG (2024), § 71 AktG, Rn. 125ff.; Schander, ZIP 1998, S. 2087 (2088); BFH, Urteil vom 04.12.1996, I R 99/94, BB 1997, S. 831). Im älteren Schrifttum wurde die Abwehr einer feindlichen Übernahme z. T. generell als Rechtfertigung für den Aktienerwerb angesehen (vgl. MünchKomm. AktG (2024), § 71, Rn. 126). Andere sehen eine feindliche Übernahme dann als zulässigen Erwerbsgrund i. S. d. § 71 Abs. 1 Nr. 1 AktG an, wenn der Aufkauf (z. B. durch einen Wettbewerber) zum Zwecke der Schädigung einer AG/KGaA/SE erfolgen soll, etwa zur Ausplünderung oder zwecks Verdrängung vom Markt. Dagegen spricht, dass der Tatbestand eng auszulegen ist und zudem dann betreffende Gesellschaft abweichend vom Grundsatz freier Verfügbarkeit die Möglichkeit erhielte, auf die Eignerstruktur steuernd einzuwirken. Auch ist die Struktur der Anteilseigner kein Schutzobjekt (argumentum ex §§ 291ff. AktG), so dass es sich bei dem Aktienerwerb mit der Folge drohender Übernahme um grds. rechtmäßiges Verhalten handelt und ansonsten auch das Wettbewerbsrecht Schutzmöglichkeiten bietet. Der einschränkenden Ansicht ist deshalb zuzustimmen; nur die drohende Übernahme durch Aufkauf zum Zwecke der Schädigung einer AG/KGaA/SE macht den Erwerb eigener Aktien zulässig (vgl. so auch Hüffer-AktG (2024), § 71, Rn. 9). Da die Schädigungsabsicht schwer nachgewiesen werden kann, reicht es aus, dass der Vorstand Tatsachen nachweist, aus denen sich die ernsthafte Besorgnis der Schädigungsabsicht objektiv ergibt (vgl. Hüffer-AktG (2024), § 71, Rn. 9).
Rn. 38
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Der Erwerb eigener Aktien ist nicht zulässig, um bei Auseinandersetzungen unter Aktionären steuernd einzuwirken (vgl. Hüffer-AktG (2024), § 71, Rn. 10).
Rn. 39
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Der Erwerb eigener Aktien zwecks Verhinderung einer Anfechtungsklage ist nach h. M. unzulässig (vgl. Hüffer-AktG (2024), § 71, Rn. 10; KK-AktG (2011), § 71, Rn. 59), nach teilweise vertretener Auffassung ganz ausnahmsweise im Hinblick auf eine Verzögerung einer auf dem HV-Beschluss beruhenden wichtigen Maßnahme zulässig, sofern die Klage eindeutig unbegründet ist (vgl. MünchKomm. AktG (2024), § 71, Rn. 140ff.). Der Erfolg einer begründeten Anfechtungsklage gewährleistet die Einhaltung von Gesetz und Satzung. Die Wiederherstellung der Legalität kann daher nicht als Schaden betreffender Gesellschaft gewertet werden. Eine unbegründete Anfechtungsklage ist dagegen grds. vor Gericht abzuwehren.
Rn. 40
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Nach heute h. M. ist der Erwerb eigener Aktien nach § 71 Abs. 1 Nr. 1 AktG zur allg. Kurspflege von Nichtbanken unzulässig und zwar auch dann, wenn ein plötzlicher Kurssturz vorliegt. In der älteren Literatur wurde ein Erwerb unter solchen Umständen z. T. als zulässig angesehen (vgl. umfassend zur Diskussion und zum Meinungsstand Grüger, BKR 2010, S. 221 (S. 223f.)...