Prof. Dr. Hartmut Bieg, Prof. Dr. Gerd Waschbusch
Rn. 122
Stand: EL 41 – ET: 12/2023
Vergleichbar zu dem in der internationalen Bilanzierungspraxis vorherrschenden Verständnis sind auch die in § 290 Abs. 2 typisierend aufgeführten (Positiv-)Indikatoren keineswegs als abschließend zu begreifen; vielmehr ist § 290 Abs. 1 als eine Art Generalnorm zu verstehen, unter die auch über Abs. 2 hinausgehende – rein faktische – Beherrschungstatbestände subsumierbar sind. Vertritt man – wie auch hier – die in der einschlägigen (Kommentar-)Literatur mehrheitlich vorzufindende Auffassung, wonach die im Katalog des § 290 Abs. 2 Nr. 1–3 formulierten Kriterien eine (formal-)rechtliche Absicherung (de jure control) bedingen (vgl. stellvertretend Küting/Mojadadr, GmbHR 2011, S. 897 (901ff.); Beck Bil-Komm. (2022), § 290 HGB, Rn. 34; Dusemond, BB 1994, S. 2034 (2036), jeweils m. w. N.), verbleibt die Frage, wie bzw. worunter der vom Gesetzgeber explizit geforderte (vgl. BT-Drs. 16/12407, S. 89f.), ggf. zu berücksichtigende Tatbestand der faktischen Beherrschung (de facto control) zu fassen ist. Angesichts der Tatsache, dass zur Konstituierung eines Beherrschungsverhältnisses eine "rechtliche Befugnis zur Beherrschung" (Niessen, WPg 1983, S. 653 (654)) nicht zwingend vonnöten, mithin im Zweifel den wirtschaftlichen Gegebenheiten Vorrang einzuräumen ist, greift in solchen Fällen bereits die allem übergeordnete Norm des § 290 Abs. 1.
Rn. 123
Stand: EL 41 – ET: 12/2023
Der wohl mit Abstand bedeutsamste Anwendungsfall faktischer Einflussnahmemöglichkeit ist das Vorliegen einer nachhaltigen (HV-)Präsenzmehrheit. In diesen Fällen verfügt ein MU zwar gerade nicht über die absolute (nominelle) Mehrheit der Stimmrechte. Typischerweise ist es aber der Nicht-Anwesenheit oder Passivität der übrigen Gesellschafter geschuldet, dass es dadurch trotz allem die Mehrheit der auf der jeweiligen HV präsenten Stimmrechte innehat und auf diese Weise die Mehrheit der Mitglieder der Verwaltungs-, Leitungs- und Kontrollorgane bestellen und ebenso abberufen kann. Eine solche, auch ohne das "gesetzliche Musterbeispiel" (HdR-E, AktG §§ 15–19, Rn. 70) einer nominellen Mehrheitsbeteiligung begründete "abhängigkeitsbedingte Instrumentalisierbarkeit" (Bork, ZGR 1994, S. 237 (263)) stellt angesichts stagnierend niedriger HV-Präsenzen inzwischen offenkundig eher den Regel- als den Ausnahmefall dar. Insoweit ist es nur konsequent und folgerichtig, wenn der Gesetzgeber seine bisherige (Zurück-)Haltung (vgl. BT-Drs. 10/3440, S. 48) aufgegeben hat und derartige – als nachhaltig anzusehende – Konstellationen (explizit) i. R.d. konsolidierten RL berücksichtigt wissen will.
Rn. 124
Stand: EL 41 – ET: 12/2023
Wie indes der Begriff der Nachhaltigkeit im jeweiligen Einzelfall auszulegen ist, lässt sich weder den einschlägigen Gesetzesmaterialien noch dem korrespondierenden Pendant des IFRS 10 (zuvor: IAS 27 (a. F.)) entnehmen. Bislang findet sich im Fachschrifttum, nicht zuletzt um eine rein zufällige Präsenzmehrheit berechtigterweise auszuschließen, lediglich die Forderung, dass eine solche Konstellation nachhaltig respektive dauerhaft zu sein hat. Wenngleich der unbestimmte Rechtsbegriff der Dauerhaftigkeit offenkundig primär einen temporalen Bezug aufweist, lässt sich keine einheitliche Auffassung erkennen, die sich a priori als handelsrechtlich verbindliche Begriffsauslegung anbieten würde. Eine zeitliche Dimension, die eine exakte Operationalisierbarkeit suggeriert, kann insoweit allenfalls nur Anhaltspunkte liefern. Ohne den einen unbestimmten Rechtsbegriff durch andere unbestimmte Rechtsbegriffe zu substituieren, dürften nachhaltige HV-Präsenzmehrheiten nach hier vertretener Ansicht in jedem Fall dann anzunehmen sein, wenn unter Rekurs auf die Erfahrungen der zurückliegenden drei Jahre mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass sich zukünftig keine signifikante Veränderung der Anwesenheitsquote und damit einhergehend des Abstimmungsverhaltens einstellt (vgl. Küting, DB 2009, S. 73 (78); zudem Beck Bil-Komm. (2022), § 290 HGB, Rn. 51; indes auch DRS 19.71; dagegen sehen Lüdenbach/Freiberg (BB 2009, S. 1230 (1231)) die Dauerhaftigkeit einer Präsenzmehrheit dann als gegeben an, sofern sich im Falle der Existenz eines nur marginal unter 50 % beteiligten Großaktionärs die übrigen Aktien im Freefloat befinden). Im Einzelfall wird es mithin dem Ermessen des Bilanzierenden überlassen, wann eine Präsenzmehrheit als nachhaltig erachtet wird (vgl. BilMoG-HB (2009), Kap. XV, S. 377 (392)). Gleichwohl handelt es sich im Ergebnis gemäß § 290 Abs. 1 unwiderlegbar um ein Mutter-Tochter-Verhältnis, sofern eine Präsenzmehrheit existiert, durch die nachhaltig die Finanz- und Geschäftspolitik eines TU beeinflusst werden kann.
Rn. 125
Stand: EL 41 – ET: 12/2023
Fraglich ist überdies, ob und inwieweit auch andere faktische Abhängigkeiten in Form schuldrechtlicher (Kredit-)Beziehungen einen Beherrschungstatbestand begründen können. Zweifellos wären auch solche Konstellationen mit der Beherrschungskonzeption des § 290 Abs. 1 ...