Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. David Markworth
I. Funktionsgrenzen der §§ 311ff. AktG
1. Überblick
Rn. 45
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Die §§ 311ff. AktG sind auf den Einzelausgleich einer isolier- und quantifizierbaren nachteiligen Maßnahme gerichtet. Der von ihnen bezweckte Schutz der abhängigen Gesellschaft und ihrer Minderheitsgesellschafter kann daher sowohl bei einer breitflächigen und intensiven Konzernsteuerung, bei der sich einzelne schädigende Maßnahmen nicht mehr isolieren lassen, als auch wenn eine Einzelmaßnahme nachteiliger Art den §§ 311ff. AktG nicht zugänglich ist, nicht gewährleistet werden. Die Konzeption des Gesetzes sieht dann grds. den Abschluss eines BHV mit allen daran anknüpfenden Konsequenzen vor. Wird ein solcher Vertrag nicht geschlossen und kommt es gleichwohl zu einer schädigenden Einflussnahme, spricht die herrschende Lehre von einer "qualifizierten Nachteilszufügung" und dem Vorliegen eines "qualifiziert faktischen" Konzerns. Eine qualifizierte Nachteilszufügung wird als grds. unzulässig und rechtswidrig angesehen (strittig; vgl. – in Übereinstimmung mit der h. M. – wie hier: OLG Hamm, Beschluß vom 03.11.1986, 8U 59/86, NJW 1987, S. 1030; HB-GesR (2020/IV), § 70, Rn. 147; Emmerich/Habersack (2020), § 28, Rn. 11; Schmidt, JZ 1992, S. 856 (860); Döser, AG 2003, S. 406 (408); Raiser/Veil (2015), § 61, Rn. 53; Habersack (1996), S. 334f.), kann aber in der Rechtswirklichkeit nicht verhindert werden. Seine rechtliche Behandlung hat im Recht der GmbH einen grundlegenden Wandel durchlaufen. Die Konsequenzen dieser Wandlung für das Aktienrecht sind umstritten.
2. Situation im GmbH-Recht
Rn. 46
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Der "qualifiziert faktische GmbH-Konzern" war in Rspr. und Schrifttum im Wege der Rechtsfortbildung lange als eigenständiger Haftungstatbestand anerkannt. BGH (vgl. BGH, Urteil vom 16.09.1985, II ZR 275/84, BGHZ 95, S. 330; BGH, Urteil vom 23.09.1991, II ZR 135/90, BGHZ 115, S. 187; BGH, Urteil vom 29.03.1993, II ZR 265/91, BGHZ 122, S. 123; BGH, Urteil vom 13.12.1993, II ZR 89/93, NJW 1994, S. 446) und BAG (vgl. BAG, Urteil vom 08.03.1994, 9 AZR 197/92, BAGE 76, S. 79) hatten unter weitgehender Zustimmung des Schrifttums für die abhängige GmbH die grds. Anwendbarkeit der §§ 302f. AktG bejaht. Der beherrschende Gesellschafter haftete danach garantieartig, unabhängig von einem ihm zuzurechnenden Verschulden.
Rn. 47
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Im Jahr 2001 gab der BGH mit der Entscheidung "Bremer Vulkan" (vgl. BGH, Urteil vom 17.09.2001, II ZR 178/99, BGHZ 149, S. 10ff.) diese Rspr. auf, allerdings zunächst nur für den Fall einer von einem Alleingesellschafter abhängigen GmbH. An ihre Stelle trat eine aus dem GmbH-Recht selbst abgeleitete Durchgriffshaftung des herrschenden Gesellschafters gegenüber den Gläubigern und Minderheitsaktionären der Gesellschaft aufgrund eines existenzvernichtenden Eingriffs. Diese Durchgriffshaftung blieb allerdings nur ein dogmatischer Zwischenschritt, von dem sich der BGH im Jahr 2007 wieder distanzierte. Seit der sog. "Trihotel"-Entscheidung (vgl. BGH, Urteil vom 16.07.2007, II ZR 3/04, BGHZ 173, S. 246ff.) erkennt der II. Senat eine Haftung des beherrschenden Gesellschafters infolge von "Existenzvernichtung" nur noch als besondere Fallgruppe des § 826 BGB an. Die sittenwidrige Schädigung sei unmittelbar gegen die juristische Person gerichtet, weshalb es sich um eine Innenhaftung handeln müsse. Die Gesellschaftsgläubiger erlitten nur einen mittelbaren Schaden, weil ihre Schuldnerin aufgrund der Schädigung durch ihren Gesellschafter insolvent geworden sei. Eines "gesellschaftsrechtlich fundierten Haftungsinstituts" bedürfe es neben der Innenhaftung aus § 826 BGB nicht (vgl. BGH, Urteil vom 16.07.2007, II ZR 3/04, BGHZ 173, S. 246 (258)). Aktuell wird im GmbH-Recht eine Wiederanwendung der Grundsätze zum qualifiziert faktischen Konzern diskutiert (vgl. OLG Schleswig, Urteil vom 29.09.2021, 9 U 11/21, NZG 2022, S. 173ff., für den Fall eines Überschuldungsausschlusses durch Verlustdeckungszusage des Mutterkonzerns; a. A. Beurskens, NZG 2022, S. 177f.: einer "Rückkehr auf dieses sumpfige Gebiet" bedurfte es nicht; gleichgerichtet Jaspers/Schiller, GWR 2022, S. 107).
Rn. 48
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Der i. R.d. § 826 BGB erforderliche Vorsatz zur Schädigung der abhängigen Gesellschaft läge bei einer planmäßigen Entziehung von Gesellschaftsvermögen regelmäßig vor. Die Beweislast treffe insoweit aber die Gesellschaft, d. h. den Insolvenzverwalter, oder die Gläubiger, die den Anspruch pfänden und an sich überweisen lassen können (vgl. BGH, Urteil vom 16.07.2007, II ZR 3/04, BGHZ 173, S. 246 (263)). Die Literatur hat diese Rspr. weitgehend begrüßt (vgl. die Nachweise bei: Hüffer, in: FS Goette (2011), S. 191 (195f.), ebenso wie KonzernR (2022), Anhang zu § 318 AktG, Rn. 34). Bestätigt und weiterentwickelt wurde sie in der Folgezeit durch: BGH, Urteil vom 13.12.2007, IX ZR 116/06, ZIP 2008, S. 455f.; BGH, Urteil vom 28.04.2008, II ZR 264/06, BGHZ 176, S. 204ff. (Gamma); BGH, Beschluss vom 02.06.2008, II ZR 104/07, ZIP 2008, S. 1329f.; BGH, Urteil vom 09.02.2009, II ZR 292/07, BGHZ 179...