Tz. 94
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Bei der Stichtagsinventur findet die Aufnahme der Bestände sämtlicher VG (und Schulden) an einem Kalenderstichtag statt (= Inventurstichtag). Der Inventurstichtag ist darüber hinaus regelmäßig identisch mit dem Tag, der als Schluss des GJ des Kaufmanns anzusehen ist (= BilSt). An dem Inventurstichtag bzw. BilSt sind sämtliche VG mit Hilfe der für sie möglichen Verfahren aufzunehmen. Die Stichtagsinventur ist demnach lediglich die zeitliche Umschreibung eines Inventursystems, ohne gleichzeitig die Art und Weise der Aufnahmetechnik vorzugeben. Sie gilt traditionell als das sicherste Aufnahmeverfahren (vgl. ähnlich ADS (1998), § 240, Rn. 36), weil jeder VG zu dem für alle VG einheitlichen Stichtag in dem zu diesem Stichtag tatsächlichen Zustand aufzunehmen ist. Da darüber hinaus der Inventurstichtag mit dem BilSt identisch ist, wird gleichzeitig auch eine Basis für die Bilanzerstellung hinsichtlich der Wiedergabe der am BilSt vorhandenen Substanz geschaffen.
Tz. 95
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Es ist offensichtlich, dass diese auf einen Tag konzentrierte Bestandsaufnahme erhebliche organisatorische Probleme im Hinblick auf eine ordnungsgemäße Bestandsaufnahme, insbesondere bei Großbetrieben, mit sich bringt. Aus diesem Grund wird auch eine um einige Tage vor oder nach dem BilSt ausgeweitete Bestandsaufnahme als zulässig angesehen (= ausgeweitete Stichtagsinventur). Die Bestandsaufnahme hat jedoch in jedem Fall zeitnah, d. h. möglichst nahe zum BilSt hin zu erfolgen. Für steuerrechtliche Zwecke ist dieser Zeitraum auf zehn Tage vor bzw. nach dem BilSt beschränkt (vgl. R 5.3. Abs. 1 EStR (2012)). Nach h. M. ist dieser Zeitraum auch für handelsbilanzielle Zwecke zu beachten (vgl. u. a. HFA 1/1990, WPg 1990, S. 143 (145)).
Zwar sind in § 241 einige Inventurvereinfachungsverfahren explizit aufgeführt, nicht jedoch diese ausgeweitete Stichtagsinventur (vgl. zu den einzelnen Inventurvereinfachungsverfahren des § 241 HdR-E, HGB § 241). Gleichzeitig ist jedoch zu berücksichtigen, dass auch die alte Gesetzesformulierung nicht die explizite Nennung der ausgeweiteten Stichtagsinventur beinhaltete. Das bedeutet, dass der Gesetzgeber im Fall einer Aufgabe der früher vorherrschenden Differenzierung dies in Klarheit hätte ausdrücklich formulieren müssen. Da dies unterblieben ist, ist auch weiterhin von der handelsbilanziellen Zulässigkeit der ausgeweiteten Stichtagsinventur auszugehen.
Es besteht demnach die Möglichkeit, die erforderliche Bestandsaufnahme in einem Zeitraum von 20 Tagen durchzuführen. Es ist nicht notwendig, die Bestandsaufnahme sämtlicher VG (und Schulden) an einem einzigen Tag in diesem 20-Tage-Zeitraum vorzunehmen; vielmehr ist eine Verteilung über mehrere Tage zulässig (vgl. ähnlich ADS (1998), § 240, Rn. 38). Hierdurch wird eine wesentliche Entzerrung der Aufnahmetätigkeit erreicht. Das kann letztlich zu einer enormen Arbeitserleichterung bei den UN führen (vgl. Küting/Leinen, StuB 2000, S. 437 (440)).
Tz. 96
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Zu beachten ist jedoch, dass in das Inventar die am BilSt vorhandenen Bestände aufzunehmen sind. Bei den VG, bei denen der Aufnahmestichtag vom BilSt abweicht, hat eine Überleitung des aufgenommenen Bestands zum Bestand am BilSt zu erfolgen (vgl. zur Überleitung des Bestands i. R.d. vor- bzw. nachgelagerten Stichtagsinventur HdR-E, HGB § 241, Rn. 25ff.). Dies kann insbesondere dann zu Problemen führen, wenn während des Aufnahmezeitraums die Geschäftstätigkeit nicht ruht. Diese Überleitung muss auf einem eindeutigen Buch- oder Belegnachweis basieren. Die Art des Nachweises hängt von der Art der Bestandsaufnahme ab. Bei einer Buchinventur ist ein Buchnachweis erforderlich, bei einer körperlichen Bestandsaufnahme bedarf es eines Belegnachweises.