Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Baetge, Dr. Dirk Fey
Rn. 1
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Der Aufstellungsgrundsatz in § 243 Abs. 1 lautet: "Der Jahresabschluß ist nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung aufzustellen." Der Inhalt des Begriffs "JA" ist im HGB in den §§ 242 Abs. 3 und 264 Abs. 1 definiert. Danach besteht der JA von Nicht-KapG und PersG, die nicht von § 264a erfasst sind, aus der Bilanz und der GuV, während der JA von KapG und PersG i. S. d. § 264a zusätzlich um einen Anhang gemäß der §§ 284–288 zu erweitern ist. Bei kap.-marktorientierten KapG (i. S. d. § 264d), die keinen KA aufstellen müssen, umfasst der JA zudem eine KFR sowie einen EK-Spiegel. Darüber hinaus kann der JA um eine Segmentberichterstattung erweitert werden (vgl. § 264 Abs. 1 Satz 2). Nicht zum JA gehört indes der Lagebericht, den KapG ebenso wie nach § 264a Abs. 1 gleichgestellte PersG zu verfassen haben (vgl. §§ 289ff.).
Rn. 2
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Zentraler Begriff für die Auslegung des Abs. 1 ist der unbestimmte Rechtsbegriff "Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung" ((GoB); vgl. HdR-E, Kap. 4, Rn. 1ff.; einen Überblick zum Begriff und zur Bedeutung der GoB gibt auch Solmecke (2009), S. 13ff.). Weil die GoB der übergeordnete Maßstab für die Ordnungsmäßigkeit von JA sind (vgl. Moxter (1976), S. 32f.), ist § 243 Abs. 1 als Generalnorm für die Aufstellung von JA anzusehen (vgl. KK-AktG (1991), § 243 HGB, Rn. 3; MünchKomm. HGB (2020), § 243, Rn. 1). Neben § 243 Abs. 1 ist auch § 238 Abs. 1 als Generalklausel für den JA heranzuziehen, weil die Buchführung die Grundlage des JA ist. Nach § 238 Abs. 1 hat der Kaufmann seine Buchführung nämlich nach den GoB so zu gestalten, dass sie einem "sachverständigen Dritten [...] einen Überblick über die Geschäftsvorfälle und über die Lage des Unternehmens vermitteln kann." Die GoB sollen also bereits in der Buchführung dafür sorgen, dass diese einen Überblick über die Lage des UN vermittelt, was für den JA, der darauf aufbaut, ebenfalls gelten muss (vgl. mit a. A. Beisse, in: FS Döllerer (1988), S. 25 (31)). Der Aufstellungsgrundsatz des § 243 Abs. 1 bindet den JA aller Kaufleute an die GoB. Die deutschen RL-Grundsätze können auch für supranationale Rechtsformen, wie die EWIV und die SE, von Bedeutung sein (vgl. z. B. Fey, DB 1992, S. 233 (234); Lutter, BB 2002, S. 1 (5); MünchKomm. AktG (2021), Art. 61 SE-VO, Rn. 15).
Die fundamentale Bedeutung der GoB neben der Buchführung auch für die Bilanzierung wird bei KapG und ihnen gleichgestellten Gesellschaften durch die Formulierung des § 264 Abs. 2 und den BV nach § 322 Abs. 1 i. V. m. IDW PS 400 (2021) in besonderem Maße deutlich: Der "beigefügte Jahresabschluss [...] vermittelt unter Beachtung der deutschen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild". Da der Gesetzgeber selbst keine Differenzierung in GoB einerseits und Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung andererseits vornimmt, erscheint eine solche Aufgliederung auch nicht erforderlich (vgl. mit a. A. MünchKomm. HGB (2020), § 243, Rn. 35).
Aus demselben Grund ist eine rechtsformspezifische Aufteilung der GoB in Grundsätze für KapG und Nicht-KapG ebenfalls nicht gesetzeskonform (vgl. Moxter, in: FS RFH/BFH (1993), S. 533 (534); MünchKomm. HGB (2020), § 243, Rn. 72ff.); vielmehr sind die für bestimmte Rechtsformen geltenden gesetzlichen Einzelvorschriften als rechtsformspezifische Spezialregelungen zu verstehen, die nicht ohne Weiteres die Rechtskraft von GoB als Maßstab für die Ordnungsmäßigkeit der RL aller Kaufleute beanspruchen dürfen (vgl. Beisse, BB 1990, S. 2007 (2008); HdR-E, Kap. 4, Rn. 4). Das schließt nicht aus, dass z. B. bestimmte Vorschriften für KapG im Laufe der Zeit sich als "Standard" auch für PersG und Einzelkaufleute in der Praxis durchsetzen können oder per Gesetzesänderung zum Standard erhoben werden (vgl. § 264a). Bspw. werden die Gliederungsvorschriften für Bilanzen und GuV von KapG (vgl. §§ 266, 275) durch vorgegebene Bilanzanalyseschemata, wie sie u. a. Kreditinstitute verwenden, vermutlich immer häufiger angewendet, um Missverständnisse beim Ausweis eines Postens der Bilanz oder GuV zu vermeiden (vgl. HdR-E, HGB § 243, Rn. 41ff.). Die Unterscheidung in gesetzliche Vorschriften für KapG und diesen gleichgestellte Gesellschaften sowie für alle Kaufleute und die Formulierung von zwei Generalnormen in § 243 Abs. 1 und § 264 Abs. 2 bedeutet nicht, dass z. B. der fundamentale GoB der Bilanzwahrheit i. S. v. Richtigkeit und Willkürfreiheit für Einzelkaufleute und bestimmte PersG nicht mehr gelten soll, weil der "true and fair view" in § 243 Abs. 1 nicht explizit erwähnt wird (vgl. Baetge, in: HWR (1993), Sp. 860 (868); HdJ, Abt. I/2 (2010), Rn. 8; MünchKomm. BilR (2013/II), § 243 HGB, Rn. 5 (indes hinsichtlich des Grundsatzes der Stetigkeit); a. A. Beisse, BB 1990, S. 2007ff.). Das wird aus der unter HdR-E, HGB § 243, Rn. 18ff., dargestellten Untersuchung der Zwecke der für alle Kaufleute geltenden Gesetzesvorschriften deutlich. V.a. die §§ 238 Abs. 1, 242 Abs. 1 und 246 A...