Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. David Markworth
Rn. 28
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Der Einflussnahme des herrschenden UN auf die abhängige Gesellschaft sind durch den Nachteilsbegriff des § 311 Abs. 1 AktG äußere Grenzen gezogen. Eine gesetzliche Definition dieses Tatbestandsmerkmals fehlt. Seine nähere Entfaltung hat sich daher an dem Normzweck der Vorschrift auszurichten (h. M.; vgl. OLG Köln, Urteil vom 27.04.2006, 18 U 90/05, NZG 2006, S. 547; BeckOGK-AktG (2022), § 311, Rn. 88; Lutter, in: FS Peltzer (2001), S. 241 (244)). Im konkretisierenden Zugriff hat sich eine zweigliedrige Formel herausgebildet, wonach eine Beeinträchtigung der Vermögens- oder Ertragslage vorliegen muss (vgl. dazu HdR-E, AktG § 311, Rn. 29ff.), die ihrerseits auf einer Abhängigkeitslage beruht (vgl. dazu HdR-E, AktG § 311, Rn. 32ff.).
1. Beeinträchtigung der Vermögens- oder Ertragslage
Rn. 29
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Allg. Auffassung zufolge knüpft der Nachteilsbegriff an eine Minderung der Vermögens- oder Ertragslage der Gesellschaft an (vgl. BGH, Urteil vom 31.05.2011, II ZR 141/09, NZG 2011, S. 829ff. (Rn. 37); BGH, Urteil vom 01.12.2008, II ZR 102/07, BGHZ 179, S. 71 (75); BGH, Urteil vom 01.03.1999, II ZR 312/97, BGHZ 141, S. 79 (84); KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 39; Hüffer-AktG (2022), § 311, Rn. 24; KK-AktG (2004), § 311, Rn. 50; HB-GesR (2020/IV), § 70, Rn. 82). Er dient also nicht nur den gegenwärtigen Vermögensinteressen der außenstehenden Aktionäre, sondern schützt auch deren zukünftige Renditeerwartungen (vgl. MünchKomm. AktG (2020), § 311, Rn. 157). I.S.e. wirksamen Außenseiterschutzes wird eine nachteilsgleiche Gefährdung der Vermögens- oder Ertragslage wie eine tatsächliche Nachteilszufügung behandelt (vgl. BGH, Urteil vom 01.03.1999, II ZR 312/97, BGHZ 141, S. 79 (84): "konkrete Gefährdung"; KK-AktG (2004), § 311, Rn. 50). Mithin kann auch eine bloße Änderung der Zusammensetzung des Gesellschaftsvermögens nachteilig sein (vgl. ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 37; Hüffer-AktG (2022), § 311, Rn. 30; KK-AktG (2004), Vorbemerkungen zu § 311 AktG, Rn. 51). Gleiches gilt u. U. für die zielgerichtete Ausübung von Bilanzierungsrechten zum Nachteil der abhängigen Gesellschaft (vgl. Hüffer-AktG (2022), § 311, Rn. 30; ausführlich Müller, in: FS Goerdeler (1987), S. 375 (384). Schon nach allg. schadensrechtlichen Kategorien lässt sich auch der sog. Reflexschaden als Nachteil i. S. d. § 311 AktG einordnen (vgl. ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 37; KK-AktG (2004), § 311, Rn. 50). Zu solchen Schäden kommt es etwa bei mehrstufigen Abhängigkeitsverhältnissen, wenn das MU das TU veranlasst, seinem EU einen Nachteil zuzufügen, um sich damit selbst schadensersatzpflichtig zu machen (vgl. Rehbinder, ZGR 1977, S. 581 (595ff.)). Allerdings deckt sich der Begriff des Nachteils aufgrund der unterschiedlichen Betrachtungsweise (Nachteil: ex-ante-Prognose; Schaden: ex-post-Betrachtung) nicht durchgängig mit demjenigen des Schadens (vgl. HdR-E, AktG § 311, Rn. 38).
2. Quantifizierbarkeit?
Rn. 30
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Viel erörtert worden ist die rechtliche Behandlung nicht quantifizierbarer Nachteile. Entgegen einer überholten, früheren Lehrmeinung (vgl. Baumbach/Hueck (1968), § 311 AktG, Rn. 8) kommt es vorliegend nicht darauf an, ob der betreffende Nachteil selbständig bewertbar ist (heute h. M.; vgl. BGH, Urteil vom 26.06.2012, II ZR 30/11, NZG 2012, S. 1030ff. ( Rn. 23); BGH, Urteil vom 31.05.2011, II ZR 141/09, NZG 2011, S. 829ff. (Rn. 37); BGH, Urteil vom 01.12.2008, II ZR 102/07, BGHZ 179, S. 71 (75); BGH, Urteil vom 01.03.1999, II ZR 312/97, BGHZ 141, S. 79 (84); OLG Köln, Urteil vom 27.04.2006, 18 U 90/05, NZG 2006, S. 547; ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 37; KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 43; Hüffer-AktG (2022), § 311, Rn. 24; MünchKomm. AktG (2020), § 311, Rn. 157; KK-AktG (2004), § 311, Rn. 54; Strohn (1977), S. 83f.). Nicht bezifferbare Nachteile aus dem Anwendungsbereich der §§ 311ff. AktG herauszunehmen würde zu empfindlichen Lücken im aktienrechtlichen System des Außenseiterschutzes führen. Eine entsprechende Einschränkung ist auch durch das gesetzliche Ausgleichsmodell nicht veranlasst. Soweit Nachteile nicht bezifferbar sind, wird die legislatorisch an sich vorgesehene Ausgleichsmöglichkeit hinfällig, soweit nicht im Ausnahmefall trotz fehlender Quantifizierbarkeit eine bestimmte Ausgleichsmaßnahme das Entstehen eines Schadens sicher ausschließt. Die betreffende Maßnahme ist dann von vornherein rechtswidrig (vgl. OLG Köln, Urteil vom 15.01.2009, 18 U 205/07, AG 2009, S. 416 (419); ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 59; BeckOGK-AktG (2022), § 311, Rn. 102; Hüffer-AktG (2022), § 311, Rn. 24; KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 43); das herrschende UN haftet unmittelbar nach § 317 AktG auf Schadensersatz (vgl. KonzernR (2019), § 311 AktG, Rn. 43; Hüffer-AktG (2022), § 311, Rn. 24; BeckOGK-AktG (2022), § 311, Rn. 102). Lässt sich der entstandene Schaden auch unter Berücksichtigung des § 287 ZPO nicht beziffern, so greifen die Grundsätze über die qualifiziert faktische Abhängigkeit ein (vgl. KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 43; BeckOGK-AktG (2022), § 311, Rn. 102).
3. Passive Konzerneffekte
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