Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. David Markworth
1. Systembedingte Schranken des Anwendungsbereichs
Rn. 6
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Die Anwendbarkeit von § 311 AktG als der Zentralnorm des Rechts der faktischen UN-Verbindung bedingt, dass zwischen den beteiligten UN kein BHV gemäß den §§ 291ff. AktG besteht. Bei Vereinbarung eines solchen im Laufe eines GJ bleibt § 311 AktG bis zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses trotz der Verlustübernahmepflicht für das gesamte GJ anwendbar (vgl. ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 9; Henssler/Strohn (2021), § 311 AktG, Rn. 6; Friedl, NZG 2005, S. 875 (876ff.)). § 323 Abs. 1 Satz 2 AktG ergänzt die im Wortlaut des § 311 AktG angelegte Einschränkung des Anwendungsbereichs und klammert auch die Eingliederungsverhältnisse von den Rechtsfolgen der §§ 311ff. AktG aus. Ist zwischen der abhängigen Gesellschaft und dem beherrschenden UN ein GAV abgeschlossen worden, so berührt dies die Ausgleichspflicht nach § 311 AktG dagegen ebenso wenig wie die Verantwortlichkeit des beherrschenden UN nach § 317 AktG. § 316 AktG lässt in diesen Konstellationen nur die Pflicht zur Erstellung eines Abhängigkeitsberichts sowie die Sanktionierung unzureichender Berichte durch eine Sonderprüfung (vgl. §§ 312–315 AktG) entfallen (vgl. zur Stimmigkeit dieses Gesamtkonzepts HdR-E, Einf AktG §§ 311–318, Rn. 5f.). Sonstige UN-Verträge i. S. v. § 292 AktG wirken sich auf die Anwendbarkeit des § 311 AktG ebenfalls nicht aus.
2. Mehrstufige Abhängigkeitsverhältnisse
Rn. 7
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben sich in mehrstufigen Abhängigkeitsverhältnissen, in denen es zu einer Kombination vertraglich und faktisch abgesicherter Herrschaftsverhältnisse kommt (vgl. dazu zusammenfassend MünchKomm. AktG (2020), Anhang zu § 311, Rn. 1ff.; KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 17ff.; ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 12ff.; Hüffer-AktG (2022), § 311, Rn. 12; KK-AktG (2004), Vorbemerkungen zu § 311, Rn. 29ff.; BeckOGK-AktG (2022), § 311, Rn. 70ff.). Im Grundsatz gilt: Die Unanwendbarkeit der §§ 311ff. AktG bezieht sich nur auf das unmittelbare Verhältnis zwischen den Partnern des BHV. Auf der Basis dieses Grundsatzes lassen sich viele Konstellationen beurteilen. So schließt ein zwischen dem MU und dem TU bestehender BHV die Ausgleichspflicht dieser beiden Gesellschaften gemäß den §§ 311ff. AktG im Verhältnis zu einem EU nicht aus. Ist das EU sowohl mit dem MU als auch mit dem TU beherrschungsvertraglich verbunden, so kann es gleichwohl im Verhältnis zwischen MU und TU zur Geltung der §§ 311ff. AktG kommen.
Rn. 8
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Nicht mit gleicher Eindeutigkeit beurteilen lässt sich dagegen die Frage, ob ein zwischen TU und EU bestehender BHV der Inanspruchnahme des MU über die §§ 311ff. AktG entgegensteht. Die Antwort erschließt sich aus dem Regelungsanliegen des Aktienkonzernrechts. Die §§ 311ff. AktG sind nur dann anzuwenden, wenn trotz der im Verhältnis zum TU eingreifenden weitreichenden Schutzmechanismen gleichwohl noch Schutzlücken zu Lasten dieser Gesellschaft oder ihrer Minderheitsaktionäre verbleiben. Die h. M. verneint solche Schutzlücken und lehnt eine Verdopplung der Ausgleichspflichten unter Rückgriff auf die §§ 311ff. AktG ab (vgl. MünchKomm. AktG (2020), Anhang zu § 311, Rn. 52ff.; KK-AktG (2004), § 311, Rn. 31; Rehbinder, ZGR 1977, S. 581; ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 15). Vertreter der Gegenansicht nehmen ein Schutzbedürfnis auch im Verhältnis zum MU mit der Begründung an, dass der Anspruch des EU auf Verlustübernahme gegen das als Partner des BHV auftretende TU wertlos sei, wenn dieses nicht vom MU mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet werde (vgl. Hölters-AktG (2022), § 311, Rn. 35; Emmerich/Habersack (2020), § 24, Rn. 23; KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 19). Z.T. wird den UN empfohlen, die Bedenken gegen den Ausschluss der §§ 311ff. AktG dadurch zu entkräften, dass sich das EU von dem MU die Erfüllung aller beherrschungsvertraglichen Pflichten des TU garantieren lässt (vgl. ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 15; KK-AktG (2004), § 311, Rn. 31; BeckOGK-AktG (2022), § 311, Rn. 71).
Rn. 9
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Sachgerecht dürfte eine differenzierende Lösung sein. Solange der über den BHV und die §§ 291ff. AktG verwirklichte Schutz ausreicht, bedarf es keines Rückgriffs auf die §§ 311ff. AktG. Sie sind vielmehr nur subsidiär anwendbar, wenn sich die Ausgleichsansprüche gegen den Partner des BHV nicht realisieren lassen. Eine direkte Inanspruchnahme des MU über § 317 Abs. 2 AktG verbietet sich, sofern es seinen Einfluss nur mittelbar über das TU wahrgenommen hat, es aber zur Erfüllung der Pflichten aus den §§ 302ff. AktG in der Lage ist. Ein uneingeschränktes Nebeneinander beider Sicherungssysteme kann daher nicht überzeugen. Hat das MU dagegen selbst unter Hinweis auf die Konzernstruktur unmittelbaren Einfluss auf das EU ausgeübt und sind die Entscheidungsgremien des EU diesen "Wünschen" ungeachtet ihrer fehlenden rechtlichen Verbindlichkeit nachgekommen, so ist auch die direkte Inanspruchnahme des MU sachgerecht (vgl. Rehbinder, ZGR 1977, S. 581 (633); im Einzelnen auch KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 19; Cahn, BB 2000, S. 1...