Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. David Markworth
1. Allgemeines
Rn. 39
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Besteht über die theoretischen Grundlagen des Nachteilsbegriffs heute weithin Einigkeit, so bereitet seine praktische Handhabung nach wie vor beträchtliches Kopfzerbrechen. Die Gründe hierfür liegen zum einen darin, dass sich unternehmerisches Handeln in vielen Fällen einer eindeutigen Beurteilung entzieht: Die Komplexität der wirtschaftlichen Verhältnisse lässt häufig nicht nur eine einzige Entscheidung als angemessen erscheinen; vielmehr steht dem Geschäftsleiter nicht selten ein breiter unternehmerischer Ermessensspielraum zu, der auch bei der Entfaltung des Nachteilsbegriffs zu berücksichtigen ist (vgl. KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 53; Hüffer-AktG (2022), § 311, Rn. 25; HdKf (1998), § 29, Rn. 9). Zum anderen ergibt sich in Gruppenzusammenhängen die zusätzliche Schwierigkeit, den in Rede stehenden Geschäftsvorfall auf eine vergleichbare unabhängige Gesellschaft zu projizieren (vgl. KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 53), was bei marktfernen Transaktionen kaum überzeugend gelingen will. Das Unsicherheitsgefälle wächst, wenn man von den Rechtsgeschäften (vgl. HdR-E, AktG § 311, Rn. 41f.) zu den sonstigen Maßnahmen (vgl. HdR-E, AktG § 311, Rn. 48ff.) voranschreitet.
2. Ermessensspielraum
Rn. 40
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Im Ausgangspunkt wird man dem Geschäftsleiter eines unabhängigen UN insbesondere bei strategischen Maßnahmen innerhalb einer gewissen Bandbreite einen breiten Ermessensspielraum zubilligen müssen, der ihm verschiedene Verhaltensweisen gestattet. Dies folgt aus der in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kodifizierten Business Judgement Rule, wonach eine Pflichtverletzung des Vorstands bei der Geschäftsführung zu verneinen ist, wenn er bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Da sich der Nachteilsbegriff an diesem Verhaltensmaßstab zu orientieren hat (vgl. HdR-E, AktG § 311, Rn. 33f.), kann ein Nachteil bei Bestehen eines Ermessensspielraums nur bei einer pflichtwidrigen Ermessensausübung bejaht werden (h. M.; vgl. BGH, Urteil vom 03.03.2008, II ZR 124/06, NJW 2008, S. 1583 (1584); Fleischer, NZG 2008, S. 371; KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 53, 57; Hüffer-AktG (2022), § 311, Rn. 25; BeckOGK-AktG (2022), § 311, Rn. 92; Vetter, ZHR 2007, S. 342 (353); ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 56). Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist dabei der Zeitpunkt der Vornahme des fraglichen Rechtsgeschäfts oder der Maßnahme (vgl. KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 44).
3. Rechtsgeschäfte
a) Fremdvergleichsgrundsatz
Rn. 41
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Vergleichsweise zuverlässige Kontrollmaßstäbe lassen sich jedenfalls im Grundsatz für die Überprüfung verbundinterner Rechtsgeschäfte ausmachen. Als archimedischer Punkt gilt der sog. Fremd- oder Drittvergleich, das Entgelt also, das unabhängige Vertragspartner für vergleichbare Leistungen zahlen würden (vgl. KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 54). Eine ähnliche Gedankenoperation ist aus der steuer- und gesellschaftsrechtlichen Diskussion um die verdeckte Gewinnausschüttung geläufig: Hier wie dort geht es darum, Bewertungsmaßstäbe für ein etwaiges Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung zu entwickeln (vgl. ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 47). Diese strukturelle Gemeinsamkeit rechtfertigt es, die Grundsätze zur verdeckten Gewinnausschüttung auch im vorliegenden Rahmen sinngemäß heranzuziehen (vgl. BeckOGK-AktG (2022), § 311, Rn. 94f.; HdKf (1998), § 29, Rn. 5; zudem BGH, Urteil vom 01.03.1999, II ZR 312/97, BGHZ 141, S. 79 (84); vorsichtig Hüffer-AktG (2022), § 311, Rn. 27), mag es auch dort um rückgewährpflichtige Vorteile, hier dagegen um ausgleichspflichtige Nachteile gehen, was bei der Beurteilung allerdings zu berücksichtigen bleibt (vgl. ADS (1997), § 311 AktG, Rn. 47; HB-GesR (2020/IV), § 70, Rn. 85).
Rn. 42
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Auch auf internationaler Ebene ist der Fremdvergleich als Rechtsfigur fest fundamentiert: Man begegnet ihm als arm’s length principle im amerikanischen Gesellschafts- und Steuerrecht, welcher von dort etwa Eingang in das OECD-Musterabkommen zur Doppelbesteuerung (vgl. OECD (2017), S. 34f. (dortiger Art. 9)) fand. Das deutsche Außensteuerrecht hat den Maßstab des Drittvergleichs schließlich in § 1 Abs. 1 AStG übernommen. Überall lautet die Testfrage: Hätte ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer unabhängigen Gesellschaft das fragliche Rechtsgeschäft zu denselben Bedingungen abgeschlossen? Den reichhaltigen steuerrechtlichen Erfahrungsschatz hierzu wird man i. R.d. aktienrechtlichen Nachteilsprüfung in vielfältiger Weise fruchtbar machen können.
b) Vergleichskonzepte
Rn. 43
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Die konkrete Anwendung gestaltet sich trotz des überzeugenden Grundkonzepts vielfach schwierig. Beurteilungsprobleme ergeben sich v.a. dort, wo es an einem Marktäquivalent für die verbundinterne Leistung fehlt (vgl. HdKf (1998), § 29, Rn. 16; KK-AktG (2004), § 311, Rn. 65). Die Rekonstruktion des Markts innerhalb des UN-Verbunds stößt hier an innere und äußere Grenzen (vgl. allg. Neus