Dr. Robert Weber, Julia Sieber
Tz. 32
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Die Haftung nach § 93 Abs. 2 AktG setzt voraus, dass ein Vorstandsmitglied durch eine Handlung oder Unterlassung seine Pflichten schuldhaft, d. h. vorsätzlich oder fahrlässig, verletzt. Das Vorstandsmitglied haftet damit für jede, also auch für die leichteste Fahrlässigkeit. Eine Haftungsmilderung unter dem Gesichtspunkt der für AN geltenden Grundsätze der betrieblich veranlassten und aufgrund eines Arbeitsverhältnisses geleisteten Arbeit kommt nach der bisherigen Rspr. für Vorstandsmitglieder nicht in Betracht, und auch die wohl noch immer h. M. in der Literatur lehnt eine vollständige Übertragung dieser Grundsätze auf Gesellschaftsorgane ab (vgl. BGH, Urteil vom 27.02.1975, II ZR 112/72, WM 1975, S. 467 (469); Hüffer-AktG (2022), § 93, Rn. 69; MünchKomm. AktG (2019), § 93 AktG, Rn. 199; BeckOGK-AktG (2021), § 93, Rn. 241; KK-AktG (2010), § 93, Rn. 37; Wellhöfer (2008), Rn. 36; kritisch bezüglich einiger Aspekte der Ungleichbehandlung: Ritter (2018), Rn. 48ff.). Eine im Vordringen befindliche Auffassung in der Literatur befürwortet allerdings – mit teilweise Ähnlichkeiten zu den Grundsätzen der AN-Haftung – die Möglichkeit der Regressreduzierung, um eine existenzvernichtende Haftung der Vorstandsmitglieder zu vermeiden, wobei die Höhe der Regressreduzierung v.a. von dem Grad der Fahrlässigkeit abhängen soll, ferner von der Schadensneigung des UN, den Bezügen des Handelnden und dem Umfang der Schadensmultiplikation durch den UN-Kontext (vgl. Hüffer-AktG (2022), § 93, Rn. 97ff.).
Tz. 33
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Für den Verschuldensmaßstab gelten i.W. die gleichen Grundsätze wie für den Pflichtenmaßstab. So ist der Verschuldensmaßstab zwingend. Er kann durch Satzung, Geschäftsordnung oder Anstellungsvertrag weder verschärft noch gemildert werden. Entsprechende Bestimmungen sind nichtig. Ebenso wie der Pflichtenmaßstab, so ist auch der Verschuldensmaßstab kein individueller, sondern ein typisierter, objektiver. Ein Vorstandsmitglied hat für die Fähigkeiten und Kenntnisse einzustehen, die die ihm anvertraute Aufgabe objektiv erfordert (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 28.11.1996, 6 U 11/95, ZIP 1997, S. 27 (32)). Auf fehlende Fähigkeiten oder Kenntnisse kann sich ein Vorstandsmitglied nicht berufen. Plötzlich auftretenden Situationen, die es überfordern können, muss es durch die Einholung sachkundigen Rats rechtzeitig vorbeugen. Dabei sind an die dem Vorstand obliegende Prüfung der Rechtslage und an die Beachtung von Gesetz und Rspr. strenge Anforderungen zu stellen. Um diesen zu genügen, muss ein nicht über die erforderliche Sachkunde verfügender Vorstand sich unter umfassender Darstellung der Gesellschaftsverhältnisse und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen, für die offenen Fragen fachlich qualifizierten Berufsträger beraten lassen und die erteilte Auskunft einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle unterziehen. Nicht erforderlich ist allerdings, dass der Prüfauftrag ausdrücklich für eine bestimmte Rechtsfrage erteilt wird (vgl. BGH, Urteil vom 28.04.2015, II ZR 63/14, NZG 2015, S. 792 (794f.); BGH, Urteil vom 14.05.2007, II ZR 48/06, NJW 2007, S. 2118 (2119); BGH, Urteil vom 20.09.2011, II ZR 234/09, NZG 2011, S. 1271). Verbleibt für die Erfüllung der dargestellten Anforderungen keine Zeit und war die Situation unvorhersehbar, so kann das Vorstandsmitglied ausnahmsweise entschuldigt sein. Fachkundigen Rat heranziehenden Organmitgliedern kann keine schuldhafte Verletzung ihrer Pflichten zur Last gelegt werden, soweit sie sich auf die Ergebnisse der eingeholten Sachverständigengutachten verlassen dürfen, nachdem sie sich kritisch mit den ihnen zur Verfügung gestellten Informationen auseinandergesetzt haben (vgl. LG Essen, Urteil vom 25.04.2012, 41 O 45/10, NZG 2012, S. 1307).
Tz. 34
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Ein Vorstandsmitglied haftet nach § 93 AktG nur für eigenes Verschulden. Eine Zurechnung des Verschuldens anderer Personen findet nicht statt. Über die Zurechnungsnormen des § 278 BGB für Erfüllungsgehilfen bzw. des § 831 BGB für Verrichtungsgehilfen lässt sich das Verhalten von Angestellten nicht den Vorstandsmitgliedern der Gesellschaft, sondern nur der Gesellschaft selbst zurechnen (vgl. BGH, Urteil vom 20.09.2011, II ZR 234/09, NZG 2011, S. 1271 (1273); Hüffer-AktG (2022), § 93, Rn. 85). Auch für das Verhalten anderer Vorstandsmitglieder ist ein Vorstandsmitglied nicht verantwortlich. Allerdings wird stets zu prüfen sein, inwieweit ein Vorstandsmitglied nicht hinsichtlich des Verhaltens von Angestellten oder anderen Organmitgliedern ein eigenes Verschulden trifft. Ein solches eigenes Verschulden kann etwa gegeben sein, wenn ein Vorstandsmitglied die von ihm delegierten Aufgaben unzureichend überwacht oder sich an der Ausführung rechtswidriger Vorstandsbeschlüsse beteiligt (vgl. KK-AktG (2010), § 93, Rn. 48f.; BeckOGK-AktG (2021), § 93, Rn. 243; zudem HdR-E, AktG § 93, Rn. 9a, 15).