Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. David Markworth
1. Grundsätze
Rn. 55
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Drängt sich die grds. Übertragbarkeit der Rechtsfolgen der §§ 302ff. AktG geradezu auf, so liegt die schwierige Aufgabe in der hinreichend präzisen tatbestandlichen Definition der intensivierten faktischen UN-Verbindung, die eine Anwendbarkeit des vorgegebenen Rechtsfolgensystems erlaubt. Genau genommen geht es nicht um die Definition einer statischen Beziehung zwischen den beteiligten Gesellschaften, sondern um die Umschreibung von Mindestanforderungen an das Verhalten des MU. Die in Doktrin und Praxis herausgearbeiteten Grundmodelle lassen sich in das "Zustands"- oder "Strukturhaftungsmodell", welches an die dauerhafte und umfassende Ausübung von Leitungsmacht anknüpft (vgl. Wiedemann, ZGR 1986, S. 656 (664); Ulmer, NJW 1986, S. 1579 (1584)), das "Verhaltenshaftungsmodell", das eine nachhaltige Verletzung des Eigeninteresses der abhängigen Gesellschaft verlangt (vgl. Krieger (1992), S. 44) und das "Qualifizierungsmodell" einteilen (vgl. dazu Zöllner, in: GS Knobbe-Keuk (1997), S. 369 (372ff.)), wobei das letztgenannte nur eine Modifizierung des Verhaltenshaftungsmodells darstellt. Während die Rspr. zum qualifiziert faktischen GmbH-Konzern ursprünglich i. S. d. "Zustandshaftungsmodells" darauf abgestellt hatte, ob das herrschende UN die Leitung der abhängigen Gesellschaft "dauernd und umfassend" an sich gezogen habe (vgl. BGH, Urteil vom 16.09.1985, II ZR 275/84, BGHZ 95, S. 330 (344); BGH, Urteil vom 23.09.1991, II ZR 135/90, BGHZ 115, S. 187 (193ff.); BAG, Urteil vom 28.04.1992, 3 AZR 142/91, BAGE 70, S. 158 (162ff.)), lassen sich nach der überzeugenden, richtungsweisenden TBB-Entscheidung (vgl. BGH, Urteil vom 29.03.1993, II ZR 265/91, BGHZ 122, S. 123 (130ff.)) zwei Tatbestandsmerkmale von zentraler Bedeutung ausmachen:
Rn. 56
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
(1) |
Das herrschende UN muss die abhängige Gesellschaft zu einer nachteiligen Maßnahme veranlasst haben. Das Verhalten der beherrschenden Gesellschaft muss dabei durch "mangelnde Rücksichtnahme auf die eigenen Belange der abhängigen Gesellschaft" geprägt sein. Dieses Verhalten des MU begründet einen "objektiven Missbrauchstatbestand" (vgl. Emmerich/Habersack (2020), § 28, Rn. 3) und rechtfertigt so die garantieähnliche, verschuldensunabhängige Verpflichtung des MU zur Übernahme des gesamten Jahresfehlbetrags. |
(2) |
Ein Einzelausgleich für die der abhängigen Gesellschaft zugefügten Nachteile durch Ersatzansprüche darf aufgrund der Intensität der negativen Einflussnahme nicht möglich sein. Dieses Kriterium rechtfertigt die Ausblendung der §§ 311ff. AktG und eröffnet den Weg zur analogen Anwendung der §§ 302ff. AktG. |
Rn. 57
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Der Sache nach geht es um eine "modifizierte Verhaltenshaftung" des MU (vgl. Altmeppen, DB 1994, S. 1912). Zwar erscheint die Veranlassung zu nachteiligen Maßnahmen in Konzernverbindungen, deren Intensität derjenigen eines BHV gleicht, generell unzulässig. Die weitgehende Verantwortlichkeit für das abhängige UN, die in der durch die §§ 302f. AktG angeordneten vollständigen Verlagerung des unternehmerischen Risikos von dem TU auf das MU ihren Ausdruck findet, ist aber erst dann sachgerecht, wenn dieses tatsächlich die unternehmerische Eigenständigkeit der Tochter missachtet und deren unternehmerische Zielsetzungen ganz den eigenen untergeordnet hat. Nicht auszuschließen ist aber, dass bereits einzelne Leitungsmaßnahmen aufgrund ihrer breiten Ausstrahlung einen derart massiven Eingriff in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit des TU bedeuten, dass die Gesamtverantwortlichkeit des MU für dieses UN sachgerecht ist. Eine dauerhafte umfassende Leitung ist daher keine Voraussetzung für den qualifiziert faktischen Konzern (vgl. HB-GesR (2020/IV), § 70, Rn. 143; Emmerich/Habersack (2020), § 28, Rn. 18).
2. Fallgruppen einer "nicht einzelausgleichsfähigen" Nachteilszufügung
Rn. 58
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Die Abgrenzung des einfachen vom qualifiziert faktischen Konzern hat in der Praxis in erster Linie anhand des Kriteriums des Einzelausgleichs zu erfolgen (vgl. zum Vorrang des Einzelausgleichs auch BGH, Urteil vom 02.10.2000, II ZR 64/99, NZG 2001, S. 126 (127); OLG Celle, Urteil vom 18.11.1998, 9U 225/97, NZG 1999, S. 728). Für den Einzelausgleich stellt das Gesetz das Schutzkonzept der §§ 311, 317 AktG zur Verfügung, so dass sich ein zusätzlicher Rückgriff auf die Regeln des Vertragskonzerns methodologisch nicht rechtfertigen lässt, solange dieser möglich bleibt (vgl. OLG Köln, Urteil vom 15.01.2009, 18 U 205/07, ZIP 2009, S. 1469 (1472)). An der Einzelausgleichsfähigkeit wird es insbesondere bei, etwa aufgrund der Dichte der Einflussnahme, intransparenten Vermögensverschiebungen innerhalb des Konzerns bzw. generell in Konstellationen der Vermögensvermischung fehlen (vgl. BGH, Urteil vom 29.03.1993, II ZR 265/91, BGHZ 122, S. 123; Michalski/Zeidler, NJW 1996, S. 224 (226ff.); Goette, DStR 1996, S. 1539; Emmerich/Habersack (2020), § 28, Rn. 18; KK-AktG (2004), Anhang zu § 318, Rn. 94). Im Schrifttum werden als weitere Fallgruppen fehlender Einzelausgleichsf...