Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Baetge, Dr. Dirk Fey
1. Aufstellungsfrist nach den Zwecken des Steuerrechts
Rn. 89
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Der BFH, der die Interessen der Steuerpflichtigen und Steuergläubiger abzuwägen hat, ist bei der Festlegung der Aufstellungsfrist recht großzügig, wenn die sachliche Richtigkeit der Besteuerungsgrundlagen gewährleistet ist (vgl. Hartz, DB 1973, S. 1717 (1719f.); Reichel, BB 1981, S. 708 (711f.)). Diese Großzügigkeit resultiert daraus, dass eine Abschlusserstellung erst einige Zeit nach dem Abschlussstichtag die Sicherheit und Genauigkeit der Rechnung erhöht, da v.a. die Unsicherheiten bei Bewertungsfragen sich mit steigender Distanz zum Abschlussstichtag verringern (vgl. Sebiger, DStR 1974, S. 238). Eine normierte Aufstellungsfrist für die StB existiert nicht (vgl. Beck Bil-Komm. (2020), § 243 HGB, Rn. 94). Allerdings muss der BFH dabei beachten, dass eine Aufstellung, die den folgenden Abschlussstichtag überschreitet, zusätzliche Möglichkeiten für eine willkürliche Verlagerung der Periodenergebnisse mit sich bringt, die nicht nur die Steuerzahlungen zu reduzieren vermag, sondern zudem einer sachlich richtigen Periodenabgrenzung entgegensteht (vgl. BFH, Urteil vom 12.12.1972, VIII R 112/69, BStBl. II 1973, S. 555ff.; Schmidt (1978), S. 30). Der sachlichen Richtigkeit der Rechnung zum Zwecke der Gleichmäßigkeit der Besteuerung dient deshalb eine Aufstellung des JA im Laufe des auf den jeweiligen Abschlussstichtag folgenden GJ. Diese Argumentation wird in einigen Urteilen des BFH besonders deutlich (vgl. etwa BFH, Urteil vom 06.12.1983, VIII R 110/79, BStBl. II 1984, S. 227ff., m. w. N.). Auch Adler/Düring/Schmaltz gehen von einer steuerlich akzeptierten Frist von einem Jahr für die Aufstellung des JA aus (vgl. ADS (1995), § 243, Rn. 39; ebenso Beck Bil-Komm. (2020), § 243, Rn. 94).
2. Aufstellungsfrist nach den Zwecken des Handelsrechts bei voraussichtlicher Unternehmensfortführung
Rn. 90
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Der BGH muss bei der Frage, innerhalb welcher Frist ein JA aus handelsrechtlicher Sicht bei voraussichtlicher Fortführung des UN (vgl. dazu IDW PS 270 (2021)) rechtzeitig erstellt ist, zu einem anderen Ergebnis kommen. Denn er hat die Interessen der Informationsadressaten (vgl. zu diesem Begriff Moxter (1974), S. 418ff.), so z. B. der UN-Leitung, der Kap.-Geber, aber auch der AN hinsichtlich der Aufstellungsfrist zu berücksichtigen. Anders als dem Fiskus ist den genannten Interessenten v.a. an aktuellen Informationen über das UN gelegen (vgl. Schmidt (1978), S. 30). Zugunsten einer aktuellen Rechenschaft wird auch eine geringere Qualität der Informationen aufgrund einer größeren Unsicherheit bezüglich künftiger Daten in Kauf genommen (vgl. Schmidt (1978), S. 33). Die Aktualität der Daten steht stärker im Vordergrund als ihre endgültige sachliche Richtigkeit, denn für Einzelkaufleute und die geschäftsführenden Gesellschafter von kleineren UN ist der JA auch heute oft noch das wichtigste RL-Instrument, das trotz seiner begrenzten Aussagefähigkeit umfassend Rechenschaft über die wirtschaftliche Lage des UN gibt (vgl. Baetge (1970), S. 33). Besonders auch im Interesse der Mitgesellschafter und Gläubiger liegt es, dass die geschäftsführenden Gesellschafter sich durch den JA selbst Rechenschaft über den Stand des UN in der vergangenen Rechnungsperiode geben, dadurch Fehlentwicklungen rechtzeitig erkennen und geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen (vgl. Maul, ZfbF 1974, S. 726 (733)). Durch aktuelle Informationen lässt sich das Entnahme- und Ausschüttungsverhalten beeinflussen, d. h., Kap.-Erhaltungsmaßnahmen können aufgrund der aktuellen Informationen frühzeitig ergriffen werden (vgl. Maul, WPg 1980, S. 465 (468)). Zudem ist der handelsrechtliche JA auch für die nicht an der Geschäftsführung beteiligten Gesellschafter sowie für die Gläubiger selbst i. d. R. die wichtigste Informationsquelle, die Anhaltspunkte für die Verwendung ihres Kap. in dem UN liefert. Auch aus diesem Grund müssen sie daher an einer möglichst frühen Aufstellung des JA interessiert sein.
Rn. 91
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Zu der Frage, welche Frist aufgrund der handelsrechtlichen Zwecke der aktuellen Rechenschaft und der frühzeitigen Vorsorge für Kap.-Erhaltung im Normalfall der UN-Fortführung zu fordern ist, lassen sich unterschiedliche Meinungen vertreten (vgl. Blumers (1983), S. 58ff., m. w. N.). So hielt es das BVerfG in seinem Beschluß vom 15.03.1978 für fraglich, ob sich "unter handelsrechtlichen Gesichtspunkten für alle denkbaren Anwendungsfälle des § 39 Abs. 2 Satz 2 HGB allgemein bestimmen läßt, wann eine Jahresbilanz frühestens errichtet werden kann und spätestens errichtet sein muß" (BVerfG, Beschluß vom 15.03.1978, 2 BvR 927/76 BB 1978, S. 572f.). Nach Auffassung des BVerfG ist die Frage der rechtzeitigen Bilanzerstellung nach den individuellen Verhältnissen des jeweiligen UN und den daraus billigerweise zu stellenden Anforderungen zu beantworten.
Diese Einzelfallbezogenheit der billigerweise zu stellenden Anforderungen ist ein wichtiges Argument gegen die Kodifikation einer bestimmten Frist.
Rn. 92
Stand: EL 35 – ET: 03/2022
Viele kleinere UN sind aufgrund der Komplexität des Steuerrechts bei der ...