Rn. 80a
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Wie bereits zuvor unterstrichen, existiert – unter Verweis auf das Vollständigkeitsgebot des § 246 Abs. 1 Satz 1 – sowohl handels- als auch steuerrechtlich ein Aktivierungs- bzw. Passivierungsgebot für aktive respektive passive RAP, sofern jeweils die Voraussetzungen des § 250 Abs. 1f. bzw. § 5 Abs. 5 Satz 1 EStG kumulativ erfüllt sind. Umgekehrt ergibt sich aus dem Gesetzeswortlaut aber auch ein Bilanzierungsverbot für all jene Fälle, die die genannten Voraussetzungen nicht erfüllen. Ist eine Bilanzierung von RAP geboten, sind die aktiven RAP nach Maßgabe des § 266 Abs. 2 unter der Bilanzposition C. auf der Aktivseite sowie die passiven RAP nach § 266 Abs. 3 unter der Bilanzposition D. auf der Passivseite der Bilanz auszuweisen. Eine Saldierung aktiver und passiver RAP ist handels- wie steuerrechtlich unzulässig (vgl. § 246 Abs. 2 Satz 1).
Rn. 80b
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Bisweilen strittig ist, ob und inwieweit bei betragsmäßig unbedeutenden Ausgaben bzw. Einnahmen vor dem BilSt, die Aufwand bzw. Ertrag für eine bestimmte Zeit nach diesem Tag darstellen, handelsrechtlich – entgegen § 246 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 250 Abs. 1 – auf eine Rechnungsabgrenzung verzichtet werden kann. Zunächst einmal dürfte diesbezüglich unstrittig sein, dass es sich bei dem nicht explizit kodifizierten Grundsatz der Wesentlichkeit (materiality) um einen GoB handelt, der durch die Bezugnahme auf die GoB in den §§ 243 Abs. 1 und 264 Abs. 2 Satz 1 für den handelsrechtlichen JA unmittelbar geltendes Recht verkörpert (vgl. BT-Drs. 18/4050, S. 41f.; BT-Drs. 18/5256, S. 78; überdies BT-Drs. 10/4268, S. 115, wonach der BiRiLiG-Gesetzgeber bereits im Jahre 1985 an verschiedenen Stellen darauf verwies, dass mit entsprechenden Vereinfachungen dem Grundsatz der Wesentlichkeit, der "schon heute als Grundsatz ordnungsmäßiger Buchführung sowohl für den Jahresabschluß als auch für den Konzernabschluß anerkannt ist, entsprochen" werde). Unterschiedliche Meinungen existieren indes (weiterhin) zur Reichweite des Wesentlichkeitsgrundsatzes (vgl. im Übrigen AKBR, NZG 2014, S. 892 (894f.). So wird etwa in Teilen des handelsrechtlichen Schrifttums die Auffassung vertreten, dass
- besagter GoB nur für die Bewertung, den Ausweis sowie die ergänzenden Informationen im Anhang und Lagebericht gelte (vgl. etwa HdJ, Abt. II/9 (2021), Rn. 127; BilR-Komm. (2022), § 250 HGB, Rn. 12; Schulze-Osterloh, BB 2004, Heft 7, S. I; Endert, DB 2011, S. 2164 (2165f.)),
- lediglich Ansatzentscheidungen auf der Passivseite der Bilanz vom Wesentlichkeitsgrundsatz ausgenommen seien (vgl. stellvertretend AKBR, BB 2014, S. 2731f.) bzw.
- der Materiality-Grundsatz uneingeschränkte Geltung zu erfahren habe (vgl. etwa Velte, EWS 2014, S. 142 (143); Hirschberger/Leuz, DB 2012, S. 2529ff.).
Rn. 80c
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Der Wesentlichkeitsgrundsatz wurde erstmals in Art. 6 Abs. 1 lit. j) der Bilanz-R explizit normiert. Danach müssen die "Anforderungen in dieser Richtlinie in Bezug auf Ansatz, Bewertung, Darstellung [(= Ausweis), d.Verf.], Offenlegung [(= Anhang- und Lageberichtsinformationen), d.Verf.] und Konsolidierung [...] nicht erfüllt werden, wenn die Wirkung ihrer Einhaltung unwesentlich ist." Die Mitgliedstaaten können gleichwohl nach Art. 6 Abs. 4 besagter Bilanz-R den Anwendungsbereich auf den Ausweis sowie die Vermittlung zusätzlicher Informationen begrenzen. Während der R-Geber die Anwendung des Wesentlichkeitsgrundsatzes hinsichtlich der materiellen und insoweit für die Ausschüttungsbemessungsfunktion relevanten Bereiche (Ansatz und Bewertung) zwar als sinnvoll, nicht aber als zwingend notwendig erachtet, kann die Anwendung des Wesentlichkeitsgrundsatzes im formellen Bereich (Ausweis, Anhang- und Lageberichtsinformationen) vom nationalen Gesetzgeber nicht ausgeschlossen werden. Der deutsche Gesetzgeber hat sich i. d. S. im Zuge des BilRUG jedoch eindeutig positioniert: "Das deutsche Handelsbilanzrecht bezieht in § 243 Absatz 1 und in § 264 Absatz 2 Satz 1 die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung bewusst ein, so dass etwa eine Definition und Festschreibung des in den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung verankerten Wesentlichkeitsprinzips wie in Artikel 6 der Richtlinie nicht notwendig erscheint" (BT-Drs. 18/5256, S. 78).
Rn. 80d
Stand: EL 44 – ET: 12/2024
Speziell vor dem Hintergrund, dass die handelsrechtlichen GoB – wie dies Kahle/Kopp (DStR 2022, S. 2627ff., m. w. N.) zutreffend und eindrucksvoll nachgezeichnet haben – "in europarechtliche Rechtsakte [eingebettet, d.Verf.]" (Hennrichs, in: FS BFH (2018), S. 1411) sind, muss das deutsche Bilanzrecht entsprechend R-konform ausgelegt werden. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 lit. j) der Bilanz-R erstreckt sich der Wesentlichkeitsgrundsatz jedoch nicht nur auf die Bewertung, sondern ebenso auf den Ansatz. Selbst wenn der deutsche Gesetzgeber vom Mitgliedstaatenwahlrecht nach Art. 6 Abs. 4 der Bilanz-R Gebrauch gemacht und den Wesentlichkeitsgrundsatz eingeschränkt hätte, w...