Dr. Robert Weber, Julia Sieber
Tz. 38
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Die Haftungsvoraussetzungen des § 93 Abs. 2 Satz 1f. AktG sind Vorstandseigenschaft, Handlung oder Unterlassung, Pflichtverletzung, Verschulden, Zurechnung und Schaden. Nach dem allg. Grundsatz des Beweisrechts, wonach jeder die ihm günstigen Tatsachen darzulegen und zu beweisen hat, träfe grds. die Gesellschaft die Darlegungs- und Beweislast für sämtliche dieser Haftungsvoraussetzungen. Da aber vorwiegend die Vorstandsmitglieder dem Beweis näherstehen und über die einzelnen Vorgänge unterrichtet sind, werden der Gesellschaft i. d. R. die Unterlagen fehlen, um sämtliche Haftungsvoraussetzungen zu beweisen. § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG trägt dieser Tatsache mit einer gesetzlichen Beweislastregel Rechnung, nach der die Vorstandsmitglieder zu beweisen haben, dass sie die "Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt haben". Nach zutreffender h. M. bezieht sich diese Beweislastumkehr nicht nur auf das Verschulden, sondern auch auf die Pflichtwidrigkeit. Anderenfalls hätte die Beweislastregel praktisch kaum eine Bedeutung (vgl. MünchKomm. AktG (1973), § 93, Rn. 32; Hüffer-AktG (2022), § 93, Rn. 103ff.; AktG-GroßKomm. (2015), § 93, Rn. 435; KK-AktG (2010), § 93, Rn. 140). Danach ergibt sich für die Verteilung der Beweislast grds. Folgendes: Die Gesellschaft hat nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG – evtl. mit der Erleichterung des § 287 ZPO – darzulegen und ggf. zu beweisen, dass ihr durch eine möglicherweise pflichtwidrige Handlung oder Unterlassung des in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieds in dessen Pflichtenkreis ein Schaden entstanden ist. Gelingt ihr dies, so werden Pflichtverletzung und Verschulden des Vorstandsmitglieds vermutet; nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG ist es dann Sache des Vorstandsmitglieds, das Gegenteil darzulegen und zu beweisen, nämlich dass es seine Pflichten nicht verletzt oder jedenfalls schuldlos gehandelt hat, oder dass auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten der Schaden eingetreten wäre (vgl. BGH, Urteil vom 15.01.2013, II ZR 90/11, WM 2013, S. 456 (458); BGH, Urteil vom 22.02.2011, II ZR 146/09, WM 2011, S. 752 (753); BGH, Urteil vom 16.03.2009, II ZR 280/07, WM 2009, S. 851 (853); BGH, Urteil vom 04.11.2002, II ZR 224/00, BGHZ 152, S. 280). Die Gesellschaft muss nach der obergerichtlichen Rspr. aber wenigstens Umstände darlegen und beweisen, aus denen sich zumindest der Anschein ergibt, dass das dem Vorstandsmitglied zur Last gelegte Verhalten pflichtwidrig sein könnte (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 28.10.2014, 12 U 567/13, NZG 2015, S. 555 (556); demgegenüber mit a. A. Fleischer/Bauer, ZIP 2015, S. 1901 (1907f.)).
Tz. 39
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Zugunsten betreffender Gesellschaft können sich weitere Beweiserleichterungen aus der Beweisnähe der Vorstandsmitglieder ergeben. So kann eine bestimmte Handlung respektive Unterlassung eines Vorstandsmitglieds bei Schäden vermutet werden, die typischerweise auf einem Verhalten aus dem Verantwortungsbereich des betreffenden Vorstandsmitglieds beruhen (vgl. OLG München, Urteil vom 08.07.2015, 7 U 3130/14, AG 2016, S. 332 (333); MünchKomm. AktG (2019), § 93, Rn. 209; Hüffer-AktG (2022), § 93, Rn. 107). Keiner weiteren Beweiserleichterung zugunsten der Gesellschaft bedarf es hingegen bei der Berufung des Vorstandsmitglieds auf den Einwand hypothetischer Schadensverursachung kraft rechtmäßigen Alternativverhaltens (vgl. HdR-E, AktG § 93, Rn. 35). In diesen Fällen trifft das Vorstandsmitglied bereits nach den allg. Grundsätzen die Darlegungs- und Beweislast, wonach jeder die ihm günstigen Tatsachen zu beweisen hat. Eine Beweiserleichterung zugunsten der Vorstandsmitglieder wird z. T. bei sozialen Aufwendungen oder Spenden befürwortet. Hier soll nach einer Mindermeinung die Beweislastumkehr gemäß § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG nicht greifen. Die mittlerweile h. M. lehnt dies allerdings ab (vgl. Hüffer-AktG (2022), § 93, Rn. 107; AktG-GroßKomm. (2015), § 93, Rn. 435; a. A. MünchKomm. AktG (2019), § 93, Rn. 209).
Tz. 40
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Die Beweislastregel des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG gilt auch gegenüber einem ausgeschiedenen Vorstandsmitglied. Allerdings hat die Gesellschaft dem Vorstandsmitglied das zu seiner Beweisführung erforderliche Material zur Verfügung zu stellen bzw. ihm Einblick in ihre Bücher und Schriften zu gewähren (vgl. § 810 BGB). Die Grenzen dieses Rechts bestimmen sich nach Treu und Glauben (vgl. BGH, Urteil vom 04.11.2002, II ZR 224/00, BGHZ 152, S. 280 (285); OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 25.09.1979, 5 U 210/78, DB 1979, S. 2476f.). Gegenüber dem Erben eines Vorstandsmitglieds findet die Beweislastregel des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG hingegen keine Anwendung, was sich aus dem für § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG maßgeblichen Gesichtspunkt der Beweisnähe ergibt. Die Beweisprobleme des Erben dürften i. d. R. weitaus größer sein als die der Gesellschaft (vgl. MünchKomm. AktG (2019), § 93, Rn. 212; Fleischer/Danninger, AG 2020, S. 193 (196f.); dies offen lassend OLG Köln, Urteil vom 01.10.2...