Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. David Markworth
I. §§ 57ff. AktG
Rn. 81
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Der Privilegierungstatbestand des § 311 AktG steht im Widerspruch zu der in den §§ 57, 58, 60, 62 AktG niedergelegten Vermögensbindung. Der gesetzliche Wertungswiderspruch ist i. S. d. Vorrangs des in seinem Anwendungsbereich spezielleren § 311 AktG aufzulösen. Auch wenn § 311 AktG die Nachteilszufügung im faktischen Konzern nicht für rechtmäßig erklären will, so erleichtert er doch die Entstehung faktischer Konzerne und privilegiert sie durch den auf das GJ-Ende hinausgeschobenen Nachteilsausgleich. Mit diesem Regelungsanliegen ist allein der Ausschluss der §§ 57ff. AktG zu vereinbaren (h. M.; vgl. BGH, Urteil vom 31.05.2011, II ZR 141/09, NZG 2011, S. 829 (834); BGH, Urteil vom 01.12.2008, II ZR 102/07, BGHZ 179, S. 71 (77); AktG-Komm. (2020), § 311, Rn. 117; Habersack, ZIP 2006, S. 1327 (1328); KK-AktG (2011), § 57, Rn. 105; AktG-GroßKomm. (2022), § 57, Rn. 243; Hölters-AktG (2022), § 311, Rn. 9; KK-AktG (2004), § 311, Rn. 161ff.; a. A. AktG-GroßKomm. (1975), § 311, Rn. 5; Gessler, in: FS Westermann (1974), S. 145 (154)). Der abstrakte Vermögens- und Liquiditätsschutz des § 57 AktG wird somit durch den konkreten Nachteilsausgleich des § 311 AktG ersetzt. Von praktischer Relevanz ist dies, wenn der Nachteilsausgleich erst zeitlich versetzt gegen Ende des GJ vorgenommen wird. Ist dagegen während des GJ überhaupt kein Nachteilsausgleich erfolgt, so greifen die §§ 57ff. AktG neben der Schadensersatzpflicht aus § 317 AktG (vgl. BGH, Urteil vom 31.05.2011, II ZR 141/09, NZG 2011, S. 829 (834); Henssler/Strohn (2021), § 311 AktG, Rn. 36). Seit Inkrafttreten des MoMiG hat die Problemstellung insoweit an praktischer Relevanz verloren, als dass ein Darlehen, welches durch den Sondertatbestand des § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG gedeckt ist, auch keinen Nachteil i. S. d. § 311 AktG darstellt (vgl. HdR-E, AktG § 311, Rn. 52). Da dann weder die §§ 57ff. AktG noch § 311 AktG zur Anwendung kommen, ist es unerheblich, ob man § 311 Abs. 1 AktG ein suspendierendes "Konzernprivileg" entnehmen möchte (vgl. Winter, DStR 2007, S. 1484 (1489); Habersack, ZGR 2009, S. 347 (357, 359f.)).
II. Gesellschaftsrechtliche Treuepflichten und § 117 AktG
Rn. 82
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Ein wesentliches Element des Minderheitenschutzes bilden auch im verbundenen UN die gesellschaftsrechtlichen Treuepflichten. Die aus ihrer Verletzung resultierenden Schadensersatzpflichten werden damit im eigenständigen Schutzbereich des § 311 AktG verdrängt. In einem zeitversetzten, aber noch im GJ erfolgenden Nachteilsausgleich kann somit keine zum Ersatz verpflichtende Treuepflichtverletzung gesehen werden. Insoweit ist § 311 AktG als abschließende Sonderregelung anzusehen, die durch die Treuepflicht nicht überlagert wird (vgl. Hölters-AktG (2022), § 311, Rn. 15; KK-AktG (2004), § 311, Rn. 167ff.; BeckOGK-AktG (2022), § 311, Rn. 130). Um die aus einer Maßnahme i. S. d. § 311 AktG resultierenden Nachteile bzw. die Angemessenheit eines avisierten Nachteilsausgleichs beurteilen zu können, kann das abhängige UN aus der Treuepflicht jedoch einen Auskunftsanspruch gegen das beherrschende UN ableiten (vgl. Pöschke, ZGR 2015, S. 550ff.). Wurden nicht einzelausgleichsfähige Nachteile zugefügt, so greifen die Ersatzansprüche aus der Treuepflichtverletzung neben der Ausgleichspflicht nach den Grundsätzen der qualifiziert faktischen Konzernierung (vgl. HdR-E, Einf AktG §§ 311–318, Rn. 52). Nach den gleichen Erwägungen richtet sich auch das Verhältnis des spezielleren § 311 AktG zum allg. aktienrechtlichen Haftungstatbestand (Haftung wegen schädigender Beeinflussung des Verwaltungshandelns) des § 117 AktG (vgl. dazu AktG-Komm. (2020), § 311, Rn. 124; Hüffer-AktG (2022), § 117, Rn. 14; Hölters-AktG (2022), § 311, Rn. 8; MünchKomm. AktG (1973), § 117, Rn. 47ff.). Auch über § 117 AktG darf die von § 311 AktG angeordnete Privilegierung durch die Möglichkeit eines zeitlich nachgelagerten Ausgleichs nicht unterlaufen werden. Insoweit ist § 311 AktG also lex specialis (vgl. KK-AktG (2004), § 311, Rn. 164; AktG-Komm. (2020), § 311, Rn. 124; Henssler/Strohn (2021), § 311 AktG, Rn. 37; Hölters-AktG (2022), § 311, Rn. 8). Unterbleibt dagegen ein Nachteilsausgleich, so ist § 117 AktG neben § 311 AktG ebenso wie neben § 317 AktG anwendbar.
III. § 243 AktG
Rn. 83
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Wird der Nachteil ausnahmsweise durch einen Beschluss der HV veranlasst, greift das Anfechtungsrecht nach § 243 Abs. 1 AktG neben den §§ 311, 317 AktG (vgl. für eine Verdrängung des Anfechtungsrechts dagegen Altmeppen, ZIP 2016, S. 441 (442ff.); Arnold/Gärtner, in: FS Stilz (2014), S. 7 (9ff.); für einen Vorrang des § 243 Abs. 1 AktG wenig überzeugend: Eschenbruch (1996), S. 250; wie hier: BGH, Urteil vom 26.06.2012, II ZR 30/11, NZG 2012, S. 1030ff. (Rn. 19); LG München (I), Urteil vom 17.05.2001, 5 HK O 15 414/99, NZG 2002, S. 826 (827); AktG-Komm. (2020), § 311, Rn. 123; Hüffer-AktG (2022), § 243, Rn. 43; Hölters-AktG (2022), § 311G, Rn. 14; KK-AktG (2004), § 311, Rn. 165). Anderenfalls könnte die einmonatige Anfechtungsfrist des § 246 Abs. 1 Ak...