Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. David Markworth
A. Grundlagen
I. Regelungszweck und rechtspraktische Bedeutung
Rn. 1
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Die Regelung des § 315 AktG eröffnet außenstehenden Aktionären die Möglichkeit, eine Sonderprüfung der Geschäftsbeziehungen ihrer Gesellschaft zu dem herrschenden oder einem mit ihm verbundenen UN zu veranlassen. Ihr liegt die Erkenntnis zugrunde, dass das Ausgleichssystem der §§ 311ff. AktG ohne ausreichende Informationen über die verbundinternen Leistungsströme weithin leerliefe (vgl. ähnlich KK-AktG (2004), § 315, Rn. 1; MünchKomm. AktG (2020), § 315, Rn. 1ff.; Godin/Wilhelmi (1971), § 315 AktG, Rn. 1). Das Gesetz stellt den außenstehenden Aktionären deshalb mit der konzernrechtlichen Sonderprüfung ein Informationsinstrument zur Verfügung (vgl. mit zutreffender Betonung der Informationsfunktion Hüffer-AktG (2022), § 315, Rn. 1; Henssler/Strohn (2021), § 315 AktG, Rn. 1; Noack, WPg 1994, S. 225; zudem Habersack/Verse, AG 2003, S. 300 (303f.)), mit dessen Hilfe sie die Einhaltung der Grenzen zulässiger Einflussnahme in faktischen Abhängigkeitsverhältnissen gerichtlich überprüfen können. Ganz im Vordergrund steht dabei die Vorbereitung von Schadensersatzansprüchen gegen das herrschende UN und dessen gesetzliche Vertreter (vgl. § 317 AktG) sowie gegen die Mitglieder von Vorstand und AR des beherrschten UN (vgl. § 318 AktG; BGH, Urteil vom 17.03.1997, II ZB 3/96, BGHZ 135, S. 107 (109ff.); OLG München, Beschluss vom 06.07.2021, 31 Wx 236/21, NZG 2021, S. 1403 (Rn. 6); KonzernR (2022), § 315 AktG, Rn. 2; Hüffer-AktG (2022), § 315, Rn. 1; KK-AktG (2004), § 315, Rn. 1; Wilsing/Neumann, DB 2006, S. 31). Einen rechtlich zwingenden Charakter hat der inhaltliche Bezug zwischen Sonderprüfung und Schadensersatz gleichwohl ebenso wenig wie bei der allg. Sonderprüfung. Weder hat der Haftungsklage eine Sonderprüfung vorgeschaltet zu sein, noch ist die Sonderprüfung gemäß § 315 AktG auf die Zielsetzung beschränkt, das erforderliche Tatsachenmaterial für eine Haftungsklage zu gewinnen.
Rn. 2
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Der Gesetzgeber legt das Antragsrecht gemäß § 315 Satz 1 AktG in die Hände eines einzelnen Aktionärs und stellt die Vorschrift damit in den Dienst des konzernrechtlichen Außenseiterschutzes (vgl. AktG-GroßKomm. (1975), § 315, Rn. 1, mit dem zutreffenden Hinweis, das herrschende UN dominiere i. d. R. die HV der AG, KGaA bzw. SE und außenstehende Aktionäre könnten vielfach das nach § 142 Abs. 2 AktG vorgesehene Quorum nicht erreichen). Freilich nehmen die hohen tatbestandlichen Hürden des § 315 Satz 1 Nr. 1–3 AktG dem Individualrecht viel von seiner Wirkung. Der durch das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) vom 27.04.1998 (BGBl. I 1998, S. 786ff.) eingefügte und seitdem durch Art. 3 (vgl. § 1 Nr. 8) des Euro-Einführungsgesetzes (EuroEG) vom 09.06.1998 (BGBl. I 1998, S. 1242ff.) sowie Art. 1 (vgl. Nr. 36) des Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) vom 22.09.2005 (BGBl. I 2005, S. 2802ff.) geänderte § 315 Satz 2 AktG soll mit seinem generalklauselartigen Sonderprüfungstatbestand insoweit für Abhilfe sorgen (vgl. KonzernR (2022), § 315 AktG, Rn. 9; Hölters-AktG (2022), § 315, Rn. 2). Unzureichend berücksichtigt bleiben auch nach der Neuregelung die Informationsbelange der Tochtergläubiger, die insbesondere beim Fehlen außenstehender Aktionäre zu kurz kommen (vgl. KK-AktG (2004), § 315, Rn. 7; relativierend aber MünchKomm. AktG (2020), § 315, Rn. 10; näher HdR-E, AktG § 315, Rn. 6).
Rn. 3
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
In der Konzernwirklichkeit spielt die Sonderprüfung nach § 315 AktG nach wie vor keine nennenswerte Rolle (vgl. Hüffer-AktG (2022), § 315, Rn. 1; Noack, WPg 1994, S. 225). Praktische Anwendungsbeispiele sind bislang nur wenige bekannt geworden, so dass die Vorschrift gelegentlich als "toter Buchstabe" (Hoffmann-Becking (1992), S. R 18) abqualifiziert wurde (vgl. das Vorliegen der Voraussetzungen des § 315 AktG bejahend OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 06.08.2001, 20 W 135/01, OLG-Report Frankfurt 2001, S. 279; ablehnend OLG München, Beschluss vom 08.06.2011, 31 Wx 81/10, ZIP 2011, S. 1364ff.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 15.06.2010, 8 W 391/08, NZG 2010, S. 864 (865f.)). Indes wäre es verfehlt, aus den mangelnden rechtspraktischen Erfahrungen auf die rechtstatsächliche Bedeutungslosigkeit der konzernrechtlichen Sonderprüfung zu schließen; vielmehr dürfte der Rechtsbehelf eine nicht unbeträchtliche Vorfeldwirkung entfalten und damit ebenso wie die allg. Sonderprüfung in erster Linie präventiv wirken (vgl. Hüffer-AktG (2022), § 315, Rn. 1; BeckOGK-AktG (2022), § 315, Rn. 3; Noack, WPg 1994, S. 225 (226); zur allg. Sonderprüfung Habersack, in: FS Wiedemann (2002), S. 891 (893f.)). Diese vorbeugende Wirkung schlägt sich im unmittelbaren Ausgleich der einer abhängigen AG, KGaA bzw. SE zugefügten Nachteile durch das MU nieder, ohne dass es eines Rückgriffs auf die §§ 317f. AktG bedarf (vgl. BGH, Urteil vom 17.03.1997, II ZB 3/96, BGHZ 135, S. 107 (112); Hommelhoff, ZHR 1992, S. 295 (313)).
II. Systematische Stellung im Aktienkonzernrecht
Rn. 4
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