Dr. Dirk Fey, Prof. Dr. Henner Klönne
A. Grundlagen
I. Begriff der Haftungsverhältnisse
Rn. 1
Stand: EL 39 – ET: 06/2023
Haftungsverhältnisse werden in der betrieblichen Praxis oft als "Eventualverbindlichkeiten" bezeichnet (außerhalb des HGB auch durch den Gesetzgeber, z. B. in § 26 RechKredV); in der internationalen Terminologie fallen die "contingent liabilities" unter die "off-balance-sheet-risks" (aus der Bilanz nicht ersichtliche Risiken; vgl. hierzu auch § 285 Nr. 3; ferner IDW RS HFA 32 (2010)). Im deutschen Bilanzrecht versteht man unter Haftungsverhältnissen (vgl. HdR-E, HGB § 246, Rn. 14f. i. V. m. HdR-E, HGB § 249, Rn. 53):
- am Abschlussstichtag bestehende, einseitige rechtliche Verpflichtungen,
- die beim künftigen Eintritt eines Ereignisses oder einer Bedingung zu einer Vermögensbelastung führen und
- in der Bilanz nur insoweit passiviert werden, als mit einer Inanspruchnahme ernsthaft zu rechnen ist.
Rn. 2
Stand: EL 39 – ET: 06/2023
Nach § 251 ist der Gesamtbetrag der am Abschlussstichtag bestehenden Verpflichtungen
- aus Bürgschaften,
- dem Wechselobligo,
- den Gewährleistungsverträgen und
- den dinglichen Sicherheiten für fremde Verbindlichkeiten
unter der Bilanz ("unter dem Strich") zu vermerken (vgl. zur Angabepflicht im Anhang für KapG § 268 Abs. 7; zur Angabe der Gründe der Einschätzung des Risikos der Inanspruchnahme aus Haftungsverhältnissen § 285 Nr. 27). Verpflichtungen, die nicht unter die vier genannten Fallgruppen zu subsumieren sind (sonstige Haftungsverhältnisse), fallen nicht unter die Vermerkpflicht dieser Vorschrift (vgl. Biener/Berneke (1986), S. 88; Kortmann, DB 1987, S. 2577; MünchKomm. HGB (2020), § 251, Rn. 2).
II. Bilanzrechtliche Einordnung der Vorschrift
1. Zweck der Vermerkpflicht
Rn. 3
Stand: EL 39 – ET: 06/2023
Die Angabepflicht von Haftungsverhältnissen nach § 251 dient in erster Linie der Selbstinformation des Kaufmanns über Risiken für die Vermögens- und Finanzlage seines UN. Da für Nicht-KapG, die nicht unter § 264a oder das PublG fallen, keine gesetzlichen Offenlegungspflichten bestanden, konnte es bei Entstehung des Gesetzes kein unmittelbarer Zweck des § 251 sein, Außenstehende über am Abschlussstichtag bestehende Risiken aus Haftungsverhältnissen zu informieren. In der Praxis lassen sich Geschäftspartner (v.a. Kreditinstitute im Hinblick auf § 18 KWG) aber auch von nicht offenlegungspflichtigen UN die JA vorlegen, so dass die Angaben nach § 251 v.a. bei Entscheidungen über die Vergabe von Krediten auch Externen zur Beurteilung der Vermögens- und Finanzlage dienen. I.V.m. den speziellen Ausweis- und Offenlegungsvorschriften für publizitätspflichtige UN dienen die Angaben nach § 251 dagegen unmittelbar der Information UN-Externer (vgl. zur Berücksichtigung von Haftungsverhältnissen bei der JA-Analyse Fey, 1989, S. 274ff.). Über § 264a gilt dies auch für alle Gesellschaften, bei denen keine natürliche Person als persönlich haftender Gesellschafter beteiligt ist.
Rn. 4
Stand: EL 39 – ET: 06/2023
Art und Umfang von Risiken aus bestehenden Haftungsverhältnissen sind für den Kaufmann selbst unter dem Gesichtspunkt der UN-Erhaltung von Interesse: Inanspruchnahmen aus umfangreicheren Engagements in Haftungsverhältnissen haben schon mehrfach zu spektakulären UN-Zusammenbrüchen geführt (vgl. z. B. Krüger (1961), S. 11; Zimmerer (1981), S. 128f.; zur Selbstinformationsfunktion des JA und der Notwendigkeit einer "Inventur der Risiken" Leffson (1987), S. 55f., 222f.). Basis einer zutreffenden Selbstinformation des Kaufmanns sind systematische Aufzeichnungen über derartige Verpflichtungen, die regelmäßig zu aktualisieren und zu analysieren sind (vgl. zu den Dokumentationserfordernissen HdJ, III/9 (2017), Rn. 155ff.; Fey (1989), S. 51ff.; Heni, DStR 1986, S. 821). Die Kenntnisse über den bestehenden Umfang der Risiken aus Haftungsverhältnissen im Verhältnis zur verfügbaren Vermögens- bzw. Haftungsmasse sind unter dem Gesichtspunkt einer ordnungsmäßigen Geschäftsführung erforderlich, weil sonst Entscheidungen über die Gewährung weiterer Sicherheiten für eigene oder fremde Verbindlichkeiten nicht in sinnvoller Weise gefällt werden können. Gerade im Hinblick auf die Aufnahme zusätzlichen FK sind vollständige Informationen über bereits bestehende (potenzielle) Vermögensbelastungen daher im Regelfall unverzichtbar.
Zu diesen das Vermögen belastenden Risiken gehören insbesondere auch die in § 251 konkret genannten Haftungsverhältnisse. Aufgabe der für das Rechnungswesen Verantwortlichen muss es daher sein, diesem Dokumentationserfordernis Rechnung zu tragen und die Bedeutung der nicht bilanzierten Risiken für die Vermögens- und Finanzlage des UN der Geschäftsführung dadurch bewusst zu machen (vgl. ADS (1998), § 251, Rn. 20f.).
Rn. 5
Stand: EL 39 – ET: 06/2023
Eine Erfassung und Beurteilung bestehender Risiken aus Haftungsverhältnissen ist daneben auch als Grundlage einer gesetzeskonformen Bilanzierung der Schulden notwendig. Das Gebot des vollständigen Schuldenausweises nach § 246 Abs. 1 Satz 1, außerdem konkretisiert durch § 249 Abs. 1 Satz 1, verlangt u. a. die Passivierung der Verpflichtungen aus Haftungsverhältnissen, sobald und soweit mit einer Inanspruch...