Tz. 144

Ebenso wenig wie es für sämtliche (Rechts-)Normen einheitliche Grundsätze der Auslegung gibt, existieren für Regelung zur Rechnungslegung einheitliche Auslegungsprinzipien. Vielmehr muss zunächst nach der Regelungsebene (international, europäisch, national) und sodann nach der Natur der Regelung (verbindlich bzw. zum positiven Recht gehörend oder unverbindlich bzw. außerrechtlich) unterschieden werden. Hinzu treten Fragen des Normrangs und damit auch der Hierarchie von Auslegungsgrundsätzen. Aus der Notwendigkeit dieser Differenzierungen resultieren grundsätzliche Schwierigkeiten der Auslegung von Rechnungslegungsnormen.

 

Tz. 145

Soweit es sich bei den Normen der Rechnungslegung um Rechtsnormen i. S. v. § 2 EGBGB handelt, folgt ihre Auslegung der allgemeinen juristischen Auslegungslehre und den Grundsätzen der Gesetzesauslegung. Das hat zwei Konsequenzen: Erstens steht die Gesetzesauslegung nicht im Belieben des Rechtsanwenders, sondern die Grundsätze der Gesetzesauslegung sind – jedenfalls im Kern – in der Verfassung verankert.[200] Soweit Gerichte oder Behörden Bilanzrecht anwenden, sind sie – wie auch sonst bei ihrer Rechtsanwendungstätigkeit – nach Art. 30 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG an Gesetz und Recht gebunden und nur dem Gesetz unterworfen. Das BVerfG folgert daraus, dass die Gerichte verpflichtet sind, unter Anwendung der klassischen Auslegungsmittel den objektivierten Willen des Gesetzgebers zu ermitteln.[201] Dies bedeutet, dass sich die Auslegung bilanzrechtliche Vorschriften nicht einfach an betriebswirtschaftlichen oder sonstigen ökonomischen oder Zweckmäßigkeitserwägungen orientieren darf, sondern an die Grundsätze der Gesetzesauslegung gebunden ist.[202]

Zweitens gelten für die Auslegung des Bilanzrechts keine Sonderregeln. Vielmehr sind, die allgemeinen Auslegungsgrundsätze zu beachten, die auch sonst für zivil- bzw. wirtschaftsrechtliche Normen maßgebend sind.[203] Allerdings lässt unter diesen Grundsätzen die teleologische Auslegung Raum für spezifische Regelungsanliegen einer speziellen Regelungsmaterie. Im Bilanzrecht geht es insoweit um die wirtschaftliche Betrachtungsweise (dazu sogleich näher). Dennoch bleibt es dabei, dass es sich methodisch um die juristische Auslegung handelt, auch wenn man sie mit dem allgemeinen wissenschaftsmethodischen Begriff der Hermeneutik bezeichnet.[204] Das ist deswegen so bedeutsam, weil die letztverbindliche Auslegung des Bilanzrechts durch Gerichte (ordentliche Gerichtsbarkeit, Finanzgerichtsbarkeit, europäische Gerichte) vorgenommen wird. Eine eigene bilanzrechtliche Auslegungsmethode, die sich von der juristischen Auslegungslehre isolieren würde, wäre damit unvereinbar.[205]

[200] Walz, in: Heymann, HGB, Band 3, Einl. Rn. 62.
[201] BVerfGE 11, 126 (130).
[202] Zutreffend Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzen, 109: keine Hinzunahme von beliebigen anderen Auslegungskriterien.
[203] Hennrichs, in: MüKo-BilR, Einf. Rn. 65 speziell für die Auslegung harmonisierten Bilanzrechts.
[204] So Ballwieser, Zur Frage der Rechtsform-, Konzern- und Branchenunabhängigkeit der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, in: Förschle/Moxter/Kaiser (Hrsg.), Rechenschaftslegung im Wandel: Festschrift für Wolfgang Dieter Budde, München 1995, 43 (46); Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzen, 109; ADS, § 243 HGB Rn. 18; Coeneberg/Haller/Schultze, Jahresabschluss, 38; auch von rechtswissenschaftlicher Seite wird der Begriff der Hermeneutik verwendet, Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl., München 2008, 611: "Gesetzesauslegung als angewandte Hermeneutik".
[205] Beisse, BB 1990, 2007 (2009).

Dieser Inhalt ist unter anderem im Merkt, Rechnungslegung nach HGB und IFRS (Schäffer-Poeschel) enthalten. Sie wollen mehr?


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