Tz. 158
Die bei der Auslegung im Bilanzrecht im Rahmen der teleologischen Auslegungsmethode zu beachtende wirtschaftliche Betrachtungsweise ist kein Spezifikum des Bilanzrechts. Vielmehr handelte sich im Rahmen der juristischen Auslegung um eine Form der teleologischen Interpretation, die sich an den Buchführungs- und Jahresabschlusszwecken orientiert. Dabei lassen sich – mit Rainer Walz – drei Ebenen der Einflussnahme einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise auf die Auslegung bilanzrechtlicher Vorschriften unterscheiden.
Tz. 159
Auf der ersten Ebene geht es um eine funktionelle Auslegung von Rechtsbegriffen in einer Weise, die unter Berücksichtigung des Regelungszwecks dem wirtschaftlichen Gehalt des geregelten wirtschaftlichen Vorgangs gerecht wird. Als Beispiel mag dienen, dass ein Disagio wie ein Zins behandelt wird, dass ein Vorbehaltsnießbrauch des Grundstücksverkäufers die Anschaffungskosten des Erwerbers erhöht oder dass der Auftragsbestand eines gekauften Unternehmens einen eigenständigen immateriellen Vermögensgegenstand bildet und nicht lediglich als unselbstständiger Teil des Geschäftswertes qualifiziert wird.
Tz. 160
Auf der zweiten Ebene geht es um eine Auslegung unter Hervorhebung der Eigenständigkeit des Bilanzrechts dort, wo die Bezugnahme auf zivilrechtliche Konstruktionen und Begriffe den bilanzrechtlichen Regelungszweck verfehlen würde. Als Beispiele lässt sich hier die Zuordnung von Vermögensgegenständen als wirtschaftliches Eigentum anführen, das vom sachenrechtlichen Eigentumsbegriff des BGB abweicht. Dieser Gedanke hat allerdings zwischenzeitlich bereits Eingang in das normierte Bilanzrecht gefunden. So wurde durch die Bilanzrichtlinie 2013 der Grundsatz der wirtschaftlichen Betrachtungsweise (Substance over Form) für die Bilanz und die Gewinn- und Verlustrechnung aufgewertet. Das in der früheren Vierten EG-Richtlinie vorgesehene Mitgliedstaatenwahlrecht wurde in Art. 6 Abs. 3 der Bilanzrichtlinie 2013 in ein Gebot überführt, wobei den Mitgliedstaaten gestattet ist, bestimmte Unternehmen von der Anwendung zu befreien. Nach dem Substance over Form-Gedanken, der in der IFRS-Rechnungslegung eine überragende Bedeutung erlangt, ist für die Bilanzierung nicht das zivilrechtliche, sondern das wirtschaftliche Eigentum maßgeblich. Der deutsche Gesetzgeber hatte erst mit dem BilMoG in § 246 Abs. 1 Satz 2 HGB einen entsprechenden Gleichschritt zu § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO vorgenommen. Bei einem Auseinanderfallen von zivilrechtlichem und wirtschaftlichem Eigentum, etwa bei Leasingtransaktionen oder bei Vereinbarung eines Eigentumsvorbehalts, setzt sich somit die wirtschaftliche Betrachtungsweise durch: ist der Leasingnehmer wirtschaftlicher Inhaber, so ist bei ihm zu bilanzieren; ebenso ist beim Sicherungsgeber zu aktivieren. Als weitere Beispiele anführen lassen sich die vom Zivilrecht abweichende Konstituierung eigenständiger Vermögensgegenstände, ferner die Aktivierung und Passivierung faktischer Forderungen und Verbindlichkeiten, sodann die wirtschaftliche Verursachung von Forderungen und Verbindlichkeiten vor dem Stichtag, obwohl sie rechtlich erst danach entstehen, und schließlich die Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte und selbstgeschaffener immaterielle Vermögensgegenstände, die zivilrechtlich als Rechte anerkannt sind.
Tz. 161
Auf der dritten Stufe schließlich geht es um die rechtliche Qualifikation privatrechtlich strukturierter Sachverhalte mit Blick auf ökonomische Anreize zur (rechtlich zulässigen) Vermeidung gesetzlich angeordneter erfolgen. Auch hier geht es um Rechtsauslegung, nämlich darum, ob und inwieweit der Rechtsanwender aus der Perspektive des Regelungszwecks neben der gewählten zivilrechtlichen Form deren atypischen wirtschaftlichen Zweck berücksichtigen darf. Als Beispiele dazu lassen sich Umsatzgeschäfte in der äußeren Form von Nutzungsüberlassungen nennen bzw. umgekehrt Nutzungsüberlassungen der Form von Kauf und späterem Rückkauf. Ein weiteres Beispiel ist der Kauf eines Hauses vom Bauträger in der Form eines Werkvertrages.
Tz. 162
Die wirtschaftliche Betrachtungsweise erfüllt eine Vermittlungsfunktion zwischen den Rechnungslegungszwecken und dem objektiven Recht, indem sie sich punktuell von den objektiven Vorgaben des Zivilrechts löst, etwa bei der Zuordnung von Gegenständen, der Berücksichtigung faktischer Verbindlichkeiten, der Zugrundelegung von Erwartungen an einen normalen Geschäftsverlauf, der Aktivierung, Passivierung und Bewertung, und dadurch dem wirtschaftlichen Effekt Vorrang vor der zivilrechtlichen Qualifikation einräumt.
Tz. 163
BEISPIEL
EuGH "Tomberger" (1996) Sachverhalt
Gegenstand des Streits war der Zeitpunkt der Aktivierung von Gewinnansprüchen, die die Alleingesellschafterin, eine GmbH, gegen ihre Tochterkapitalgesellschaften hatte. Der BGH hatte zuvor – nach damaligem Recht – entschieden, dass eine beherrschende Kapitalgesellschaft unter bestimmten Voraussetzungen Dividendenansprüche "phasengleich" zu jene...