Tz. 177
Allerdings ist mit der Frage nach dem maßgeblichen Kollisionsrecht noch nicht beantwortet, welche Kollisionsregeln der lex fori anwendbar sind. Im deutschen Recht unterscheidet man nach der Rechtsnatur der fraglichen Normen: Für Normen des Privatrechts gelten andere Kollisionsnormen als für Normen des öffentlichen Rechts.
Tz. 178
Indessen herrscht seit Langem Uneinigkeit in der Frage, ob es sich beim Rechnungslegungsrecht um öffentliches Recht oder um Privatrecht handelt.
Tz. 179
Früher ordnete die herrschende Meinung im Anschluss an die ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts die Buchführungs- und Bilanzierungspflicht und dem folgend die §§ 238 ff., §§ 242 ff., §§ 264 ff. HGB dem öffentlichen Recht zu. Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass die Buchführungspflicht auf die Wahrung des Allgemeininteresses gerichtet sei und dass die Pflicht zur Buchführung und zur Rechnungslegung gegenüber der Allgemeinheit bestehe. Hingegen diene Bilanzrecht nicht dem privatrechtlichen Individualschutz und regele auch kein Rechtsverhältnis zwischen Privatrechtssubjekten. Außerdem sei das Rechnungslegungsrecht rechtsformneutral, weshalb die privatrechtliche Anknüpfung an das Gesellschaftsstatut ausscheide. Aus dem öffentlich-rechtlichen Charakter der Buchführungs-, Rechnungslegungs- und Bilanzierungspflicht wird sodann abgeleitet, dass die genannten Pflichten nicht zur Disposition des Kaufmanns stehen und insbesondere nicht individualvertraglich abbedungen werden können.
Tz. 180
Inzwischen hat sich das Meinungsbild gewandelt und herrschend geworden ist die privatrechtliche Einordnung des Rechnungslegungsrechts. Dafür lassen sich die überzeugenderen Gründe anführen. Zunächst gehört das Rechnungslegungsrecht traditionell zum Privatrecht der Kaufleute, weshalb es in vielen Ländern, darunter Deutschland, sachlich-gegenständlich und systematisch dem Handelsrecht zugeordnet und im Handelsgesetzbuch geregelt ist. Von seinem Ursprung her ist das Rechnungslegungsrecht ein selbst geschaffenes Recht der Kaufleute für die Kaufleute. Gegen die öffentlich-rechtliche Qualifizierung der Rechnungslegungsvorschriften spricht, dass sie ohne Not die Kategorien des öffentlichen Rechts, des zwingenden Privatrechts und des dispositiven Privatrechts vermischt. Zwar lässt sich nicht ernsthaft leugnen, dass die Buchführungspflicht dem Kaufmann jedenfalls auch im Allgemeininteresse auferlegt ist. Jedoch folgt daraus keineswegs ihr öffentlich-rechtlicher Charakter. Wollte man so argumentieren, wären weite Bereiche des Bürgerlichen Rechts dem öffentlichen Recht zuzuordnen, weil an vielen Stellen des Bürgerlichen Rechts ein Allgemeininteresse an der entsprechenden Regelung besteht. Exemplarisch genannt seien hier die Nichtigkeitsfolge bei gesetzeswidrigen oder sittenwidrigen Rechtsgeschäften (§§ 134, 138 BGB), das Verbot, die Haftung wegen Vorsatzes im Voraus zu erlassen (§ 276 Abs. 3 BGB), das Institut des Minderjährigenschutzes (§§ 104, 106 BGB) und – wegen des allgemeinen Bedürfnisses nach Rechts- und Verkehrssicherheit – weite Teile des Sachenrechts (etwa der sog. numerus clausus dinglicher Rechte). Als weitere Beispiele aus dem Handels- und Wirtschaftsrecht sind das Firmenordnungsrecht und das Recht des unlauteren Wettbewerbs zu nennen, beides Materien, die nach ganz herrschender und zutreffender Auffassung nicht dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind.
Tz. 181
Nach richtiger Ansicht handelt es sich beim Rechnungslegungsrecht wie auch sonst an vielen Stellen des (Wirtschafts-) Privatrechts um zwingende Vorschriften des Privatrechts, die der Disposition des einzelnen entzogen sind. Verfehlt ist sodann die These, Bilanzrecht schütze nicht die Individualinteressen der am kaufmännischen Verkehr Beteiligten. Auch hier werden zwei Dinge miteinander vermischt, die getrennt werden müssen, nämlich die Frage nach dem Schutz von Individualinteressen und die weitere Frage, ob dieser Individualschutz jene Qualität erreicht, die für einen Schutz aus Deliktsrecht (Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. bilanzrechtlichen Vorschriften) als erforderlich angesehen wird. Dass bilanzrechtliche Vorschriften in vielfältiger Weise und ganz unterschiedliche Individualinteressen schützen, wird jedenfalls in der bilanzökonomischen und bilanzrechtlichen Fachliteratur nicht ernsthaft bestritten (zu den Funktionen von Bilanz und Bilanzrecht vgl. Tz. 193 ff.). Ob dieser Individualschutz im Einzelfall eine deliktsrechtliche Haftung für Bilanzrechtsverletzungen trägt, ist hier wie auch sonst im Privatrecht von Norm zu Norm zu entscheiden und kann nicht pauschal für ein gesamtes Rechtsgebiet präjudiziert werden.
Tz. 182
Auch der Hinweis, dass das Rechnungslegungsrecht rechtsformneutral sei, weshalb die privatrechtliche Anknüpfung an das Gesellschaftsstatut ausscheide, verfängt nicht. Denn diesem Hinweis liegt offenbar der Gedanke zugrunde, dass im Privatrecht allein das Gesellschaftsstatut für die Anknüpfung des Rechnungslegungsre...