Dr. Falk Mylich, Dr. Thilo Schülke
Tz. 77
Den IFRS liegt mit der Definition in IAS 8.5 ein subjektiver Fehlerbegriff zu Grunde. Ein Abschluss ist nach IAS 8.5 fehlerhaft, wenn er im Widerspruch zu den IFRS einen im Geschäftsjahr verwirklichten Sachverhalt nicht berücksichtigt oder falsch darstellt, obwohl dieser Sachverhalt dem Abschlussersteller bis zum Aufstellungszeitpunkt (vgl. Kapitel 4) bekannt war oder hätte bekannt sein müssen. IAS 8.5 beschreibt diesen Sorgfaltsmaßstab mit den Worten "(. . .) hätten eingeholt und bei der Aufstellung und Darstellung der entsprechenden Abschlüsse berücksichtigt werden können (. . .)". Das entspricht der im handelsrechtlichen Schrifttum anerkannten Formel, nach der eine Bilanz fehlerhaft ist, "wenn ein Bilanzansatz objektiv gegen Bilanzierungsvorschriften verstößt und der Kaufmann dies nach den im Zeitpunkt der Bilanzfeststellung bestehenden Erkenntnismöglichkeiten bei pflichtgemäßer und gewissenhafter Prüfung auch hatte erkennen können". Danach ist eine im Zeitpunkt der Abschlusserstellung nach diesem Maßstab vertretbare Prognose und Sachverhaltsbeurteilung selbst dann nicht fehlerhaft, wenn sie sich später als falsch herausstellt.
Tz. 78
BEISPIEL
Im Rahmen einer Stichprobeninventur wird festgestellt, dass der Warenbestand bereits im Vorjahr unzutreffend erfasst worden war. Dreihundert Kisten waren im Lager falsch beschriftet und enthielten weitaus weniger wertvolle Waren. Das konnte im Vorjahr nicht erkannt werden, obwohl alle Regeln für eine ordnungsmäßige Inventur befolgt und in einer ausreichend großen und sorgfältig ausgewählten Stichprobe Kisten geöffnet worden waren.
Lösung: Der Vorjahresabschluss hat den wahren Lagerbestand unzutreffend wiedergegeben. Er war aber nicht falsch, weil die Verwaltung des Unternehmens trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt den Fehler nicht erkennen konnte.
Tz. 79
Die Subjektivität des Fehlerbegriffs bezieht sich sowohl auch den Sachverhalt als auch auf die mit der Auslegung der Standards verbundene Rechtsfrage. Soweit im Zeitpunkt der Abschlussaufstellung nach den Standards, den Interpretationen, der Rechtsprechung und dem Meinungsstand im Schrifttum verschiedene Darstellungen eines Sachverhalts vertretbar sind, ist eine in diesem Rahmen vorgenommene Berichterstattung nicht fehlerhaft. Das gilt auch dann, wenn später eine widersprechende klarstellende Interpretation mit verbindlichem Charakter veröffentlicht wird. Der von der deutschen Finanzrechtsprechung bezogen auf die Rechtsfrage entwickelte objektive Fehlerbegriff wäre auf den IFRS-Abschluss wegen der unterschiedlichen Zielsetzung der IFRS und der steuerlichen Gewinnermittlung auch nicht übertragbar. Die steuerliche Gewinnermittlung dient dem Zweck, die staatlichen Finanzierungslasten nach einem objektiv bestimmten Leistungsfähigkeitsindikator auf die Steuerpflichtigen zu verteilen. Die Rechnungslegung nach IFRS verfolgt als Optimierungsziel die zutreffende Information der Abschlussadressaten über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage. Wo die Abschlusszwecke und die Standards einen Interpretationsspielraum lassen, ist diese Unsicherheit Teil einer den Abschlussersteller und die Abschlussadressaten verbindenden Konvention. Die Verkehrserwartung der Abschlussadressaten enthält im Zeitpunkt der Abschlusserstellung bestehende Unsicherheiten über die Darstellungsregeln. Sie richtet sich nur darauf, dass dem Abschluss eine im Zeitpunkt der Abschlusserstellung vertretbare Interpretation der IFRS zu Grunde liegt und dabei auch der Grundsatz der Neutralität der Darstellung (vgl. Kapitel 4) nicht verletzt wurde.
Tz. 80
BEISPIEL
Im Jahr X5 entscheidet der Europäische Gerichtshof nach Vorlage durch den Bundesgerichtshof in einem Anlegerprozess über die lange umstrittene Auslegung eines einzelnen Rechnungslegungsstandards für alle Vorjahre abweichend von der Auslegung der Standards in den Empfehlungen des IDW. Das Unternehmen hatte in den Abschlüssen für die Geschäftsjahre X1–X4 die für die jeweiligen Geschäftsjahre Empfehlungen des IDW befolgt.
Lösung: Die Vorjahresabschlüsse verstoßen zwar objektiv gegen die unionsrechtlichen IFRS. Sie sind aber nicht falsch, weil es der Sorgfalt einer ordentlichen und gewissenhaften Verwaltung entspricht, die IDW-Standards bei der Bilanzierung zu befolgen.
Tz. 81
Der Sorgfaltsmaßstab, den IAS 8.5 mit der Formel ". . . hätten eingeholt und berücksichtigt werden können. . ." unbestimmt lässt, ergibt sich aus dem Pflichtprogramm der einzelnen Standards, den Abschlussgrundsätzen und der Verkehrserwartung. Im Schrifttum wird dabei auf einen wachsenden Konflikt hingewiesen. Steigenden Erwartungen an die Qualität der Darstellung und stetig wachsender Komplexität der Darstellungsregeln stehen wachsende Bedürfnisse nach einer zeitnahen und kostengünstigen Abschlusserstellung gegenüber. Ein kurzer Aufstellungszeitraum (fast close) reduziert aber nicht die Sorgfaltspflichten. Informati...