Dr. Falk Mylich, Dr. Thilo Schülke
Tz. 26
Während der ersten Ansicht, der BFH habe nur über steuerrechtliche Besonderheiten entschieden, zugestimmt werden kann, ist die zweite Ansicht in Ihrer Schlussfolgerung rechtlich nicht überzeugend. Rechtsprechung hat generell – nicht nur im Instanzenzug des jeweiligen Rechtsweges – eine normbildende Funktion. Wenden Gerichte verschiedener Rechtswege dieselbe Rechtsnorm an, ist es wahrscheinlich, dass das später entscheidende Gericht zuvor ergangene Urteile hinsichtlich derselben Rechtsfrage auch dann berücksichtigt, wenn diese von einem rechtswegfremden Gericht stammen. Der Revisionsgrund der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gem. § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO ist nicht auf den Rechtszug der ordentlichen Gerichtsbarkeit beschränkt. Stattdessen existiert gem. Art. 95 Abs. 3 GG ein Gemeinsamer Senat der obersten Bundesgerichte – einschließlich des BFH – zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung.
Die genannte Ansicht, die eine Anwendung des subjektiven Fehlerbegriffs auf Rechtsfragen generell für untunlich hält, hat starke Argumente auf ihrer Seite. Denn Irrtümer über die Rechtslage sind in allen anderen Bereichen des Rechts nur in seltenen Ausnahmefällen beachtlich – namentlich dann, wenn tatbestandlich ein Verschulden vorausgesetzt wird, an dem es ausnahmsweise fehlen kann, wenn ein unvermeidbarer Verbotsirrtum vorliegt (§ 17 StGB). Das ist im Bilanzrecht nicht der Fall: §§ 242 ff. HGB verpflichten den Kaufmann verschuldensunabhängig zur Bilanzierung nach den GoB. Erst auf Ebene der Straf- und Bußgeldtatbestände kommt es auf ein mögliches Verschulden an, ebenso wenn es um die Haftung des für die Bilanzierung zuständigen Geschäftsleiters geht.
Hinzu kommt die bereits angesprochene Normbildungsfunktion der Gerichte. Diese kann nur dann erfüllt werden, wenn Tatbestände einheitlich ausgelegt und zur Anwendung gebracht werden. Das Risiko, die Rechtslage anders einzuschätzen als später ein Gericht betrifft alle Rechtsunterworfenen in allen Rechtsgebieten. Es muss die Frage erlaubt sein, weshalb dies im Handelsbilanzrecht anders sein soll. Aus § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB folgt dies jedenfalls nicht.
Es bleiben vordringlich praktische Erwägungen, die für die Anwendung des subjektiven Fehlerbegriffs auf Rechtsfragen streiten. Da Rechtsregeln auch und gerade kontrafaktische Verhaltenserwartungen festschreiben, sind praktische Erwägungen als Argument nicht per se überzeugend. Es stellt sich deshalb die Frage, ob die Problematik der praktischen Folgen nicht auf andere Weise als mit einem subjektiven Fehlerbegriff gelöst werden kann. Schulze-Osterloh hat herausgearbeitet, dass die praktischen Folgen nur in einem einzigen Fall besonders gewichtig sein können, nämlich im Fall der wesentlichen Überbewertung. Trifft dieses Ergebnis zu, ist das ein starkes Argument dafür, auch im Handelsbilanzrecht den subjektiven Fehlerbegriff nicht mehr auf Rechtsfragen anzuwenden.
Die praktischen Auswirkungen der vorstehenden Diskussion sind gleichwohl gering. Denn in der Tat hat der BGH wenig Gelegenheit, Fragen des Handelsbilanzrechts zu klären. Faktisch übernimmt der Berufsstand (bzw. Teile des Berufsstands) die dadurch erforderliche Konkretisierung der handelsrechtlichen Vorschriften in Form von Verlautbarungen des IDW selbst. Das IDW hat die hier problematisierte Frage entschieden, und zwar für die Anwendbarkeit des subjektiven Fehlerbegriffs auf Rechtsfragen. Sollte doch einmal der BGH künftig über die Folgen eines Irrtums über eine rechtliche Ansatz- oder Bewertungsfrage zu befinden haben, erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass er die bisherige Rechtsprechung des BFH konsultieren und den subjektiven Fehlerbegriff mit der Begründung auf die Rechtsfragenbeurteilung anwenden wird, die abweichende Entscheidung des BFH sei nur zum Steuerrecht ergangen.