Dr. Falk Mylich, Dr. Mathias Link
Tz. 32
Als Folgeproblem der h. M. stellt sich nach wie vor die Prinzipienfrage, ob § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB die Einzelvorschriften im Einzelfall überlagert (overriding principle) oder nur Auslegungs- und Lückenschließungscharakter hat. Bereits der Wortlaut sorgt für die Unklarheit. Einerseits sind die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung zu beachten; andererseits soll ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Kapitalgesellschaft vermittelt werden. Das Kardinalproblem lautet: Dominieren im Zweifel die GoB oder das Prinzip des true and fair view?
Tz. 33
Soweit letztere Sichtweise bevorzugt wird, können Wahlrechte nur so ausgeübt werden, wie sie die Verhältnisse am besten widerspiegeln. Doch stellt sich hier bereits die Frage, ob Wahlrechte sinnvoll so eingeschränkt werden können. Einerseits hat der Gesetzgeber durch das BilMoG bereits eine Vielzahl von Wahlrechten abgeschafft, andererseits lässt sich die Schwierigkeit dieser Sichtweise an folgenden Beispielen verdeutlichen: Entspricht es den tatsächlichen Verhältnissen besser, ein selbst geschaffenes Immaterialgut anzusetzen (§ 248 Abs. 2 HGB), obwohl nur Entwicklungskosten (§ 255 Abs. 2a Satz 2 HGB), jedoch nicht Forschungskosten (§ 255 Abs. 2a Satz 3 HGB) angesetzt werden dürfen? Kann man feststellen, wann die Einbeziehung von Kosten für die allgemeine Verwaltung (§ 255 Abs. 2 Satz 3 HGB) ein den tatsächlichen Umständen zutreffendes Bild abgibt? Kann man feststellen, wann der Ansatz eines Überhangs an aktiven latenten Steuern (§ 274 Abs. 1 Satz 2 HGB) bzw. der unverrechnete Ansatz latenter Steuern (§ 274 Abs. 1 Satz 3 HGB) ein den tatsächlichen Umständen zutreffendes Bild abgibt? Bereits bei Beantwortung dieser Fragen sind Zweifel an einer Dominanz des true-and-fair-view-Prinzips angebracht. Diese werden noch verstärkt, wenn man bedenkt, dass erhebliche stille Reserven eine krasse Bilanzverzerrung bewirken können. Der zur Aufstellung der Bilanz Verpflichtete muss trotzdem Buchwerte ansetzen, weil andernfalls ein nicht am Markt realisierter Gewinn ausgewiesen würde. Eine Dominanz des true-and-fair-view-Prinzips würde mit dem Anschaffungskostenprinzip kollidieren. Lässt der Bilanzierungspflichtige Spezialgegenstände herstellen bzw. erwirbt er diese, dann darf der Anschaffungsvorgang deshalb durch den Ansatz der Anschaffungskosten neutralisiert werden, weil der Unternehmer davon ausgeht, seine wirtschaftlichen Ziele mit diesen Gegenständen verwirklichen zu können. Ein Bilanzleser kann diese Kausalität nicht erkennen und müsste unter true-and-fair-view-Gesichtspunkten vielmehr darauf hingewiesen werden, dass dieser Gegenstand nicht verwertbar ist. Daher ist die Sichtweise abzulehnen, die in § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB ein alle anderen Prinzipien überlagerndes Prinzip erkennt.
Tz. 34
Mit der h. M. ist das true-and-fair-view-Prinzip lediglich ein Auslegungsgrundsatz bzw. Hilfsmittel bei der Lückenschließung. Vorrang haben grundsätzlich die in den §§ 246 ff. und §§ 252 ff. HGB aufgeführten Ansatz- und Bewertungsgrundsätze. Dieser Vorrang hängt mit dem Vorrang der Ausschüttungsbemessungsfunktion vor der Informationsfunktion zusammen. Aus Gründen des Gläubigerschutzes sollen Ausschüttungen an die Gesellschafter nur geschehen, wenn das Stammkapital bzw. das Grundkapital (ggf. zuzüglich gesetzlicher Rücklage und Kapitalrücklage) erhalten wird. Dazu bedarf es eines neutralen Rechnungswerkes, das allenfalls bei drohender Überbewertung (durch außerplanmäßige Abschreibungen) korrigiert werden darf. Unzulässig ist hingegen Neubewertung und Neuausweis nach subjektiver Einschätzung, weil dadurch vermeintlich eine den tatsächlichen Umständen zutreffendere Lage dargestellt wird. Die folgenden Ausführungen bzw. Beispiele verdeutlichen die bloße Auslegungs- und Ergänzungsfunktion von § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB.