Prof. Dr. Heribert Anzinger, Prof. Dr. Nadine Antonakopoulos
Tz. 75
Eine Verkehrserwartung an die inhaltliche Ausgestaltung des Jahresabschlusses des Kaufmanns und damit verbunden eine normative Geltung handelsrechtlicher GoB bestand lange vor Inkrafttreten des HGB und seines Vorläufers des ADHGB. Als vielzitierter geistiger Urvater zahlreicher Grundelemente der geltenden handelsrechtlichen Buchführungs- und Bilanzierungsvorschriften gilt Luca Pacioli. Aber selbst Pacioli hat Buchführungs- und Bilanzierungsregeln nicht neu entwickelt, sondern in seiner Abhandlung über die Buchhaltung von 1494 die kaufmännische Sitte und damit die Verkehrserwartungen an eine ordnungsmäßige Bilanzierung zwischen den Kaufleuten in den oberitalienischen Stadtstaaten beschrieben (vgl. Kapitel 1). Die im mittelalterlichen Zunftsystem von der Verkehrserwartung der jeweiligen Best Practice der Buchführung und Bilanzierung ausgehende normative Kraft könnte bereits mit derjenigen heutiger Gesetzesbefehle vergleichbar gewesen sein. Ab 1518 begann die Dokumentation der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung und Bilanzierung auch im deutschsprachigen Raum. Und bereits seit 1594 schwanken die jeweils geltenden Rechnungslegungsgrundsätze für den Jahresabschluss hinsichtlich Vorsicht und Einblick und zwischen einem strengen Anschaffungs- und Herstellungshöchstwertprinzip und der zulässigen Höherbewertung von Anlage- und Umlaufvermögen mit dem geschätzten Verkehrswert.
Die Ordonnance de Commerce von 1673 regelte neben wenigen Buchführungsgrundsätzen nur eine Pflicht, alle zwei Jahre ein auch die Schulden umfassendes Inventar aufzustellen. Den Erläuterungen des Konstrukteurs der Ordonnance, Jaques Savary, zufolge handelte es sich bei diesem Inventar jedoch um eine nach kaufmännischen Grundsätzen aufzustellenden Bilanz mit der Funktion, einen Vermögensüberblick zu gewährleisten und den Gewinn und Verlust festzustellen. Im Code de Commerce von 1807 kommt dieses Verständnis nur wenig deutlicher, nun aber verbunden mit einer jährlichen Aufstellungspflicht zum Ausdruck.
Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 setzte sowohl in den Beweis- als auch in den Strafvorschriften ebenfalls außergesetzlich bestehende Grundsätze ordentlicher Buchführung und Bilanzierung voraus und formulierte im Abschnitt über die Handelsgesellschaften einzelne Bilanzierungsgrundsätze. Auch das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1869 geht von außerhalb des Gesetzes bestehenden GoB aus. Art. 31 ADHGB 1869 schreibt für alle Vermögensgegenstände und Forderungen die Bewertung zu Zeitwerten vor und durchbrach damit aus heutiger Sicht das Anschaffungs- und Herstellungskostenhöchstwertprinzip, spiegelte aber nach der Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts nur die zu dieser Zeit allgemein geltenden Rechtsgrundsätze der GoB. Aus dieser Rechtsprechung erschließt sich auch ein Verständnis der GoB als qualifiziertem Handelsbrauch, in dem teleologische Norminterpretation und tatsächliche Übung seit jeher aufeinandertreffen. Während § 40 HGB 1897 noch von diesen GoB ausging, spiegelte das Aktiengesetz 1884 bereits einen sich andeutenden Wandel der GoB und bildete den Ausgangspunkt für abweichende Bewertungsgrundsätze. Nach den Art. 185a, 185b und 239b AktG 1884 galten nunmehr die Anschaffungs- und Herstellungskosten als Bewertungsobergrenze. Diese Vorschriften sind schließlich in das HGB 1897 übernommen worden, waren aber in ihrer Geltung auf Aktiengesellschaften beschränkt. Erst in den 1920er Jahren begannen das Realisationsprinzip und das Anschaffungshöchstwertprinzip die GoB für alle Kaufleute zu prägen.
Einen ausdrücklichen Verweis auf die GoB enthielt erstmals § 38 HGB 1897 ("Jeder Kaufmann ist verpflichtet, Bücher zu führen und in diesen seine Handelsgeschäfte und die Lage seines Vermögens nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung ersichtlich zu machen"). Der Gesetzgeber verband mit dieser Generalklausel freilich nur eine klarstellende Funktion. Nach den Motiven waren die GoB die "Gepflogenheiten sorgfältiger Kaufleute" also Handelsbräuche. Damit war durch § 38 HGB 1897 nur formuliert, was zuvor bereits gegolten hatte.