Prof. Dr. Heribert Anzinger, Prof. Dr. Nadine Antonakopoulos
Tz. 78
Die europäische Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung gründete in dem Ziel einer Angleichung der nationalen Schutzbestimmungen zu Gunsten der Gesellschafter und Gläubiger von Kapitalgesellschaften. Einen historischen Ausgangspunkt bildete der Auftrag der EWG-Kommission an eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des deutschen Wirtschaftsprüfers Wilhelm Elmendorff, deren Vorschläge in den Jahresabschlussgrundsätzen weitgehend dem deutschen Bilanzrecht der Aktiengesellschaften und damit den GoB entsprachen. Daran anknüpfend stellte der erste Richtlinienvorschlag der Kommission in der Präambel den "sicheren" Einblick in die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage und die GoB in den Mittelpunkt. Erst im Zuge der durch die Verhandlungen über den Beitritt und drohenden Wiederaustritt Großbritanniens 1972–1975 beeinflussten Beratungen im Europäischen Parlament und im Wirtschafts- und Sozialausschuss, wandelte sich die Prämisse vom "sicheren Einblick" zum "getreuen Einblick" in die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage und entfiel der Verweis auf die GoB. Im Text der schließlich verabschiedeten "Vierten Richtlinie des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen" waren nach englischer Lesart einerseits und deutsch-französischer Lesart andererseits zwei widerstreitende Bilanzierungszwecke geregelt: Der kapitalmarktorientierte Informationszweck, der einen "getreuen" Einblick verlangte, und die gesellschaftsrechtliche Ausschüttungsbemessungsfunktion, die einen "sicheren" Einblick voraussetzte. Dabei findet sich die englische Sicht im Wortlaut der Präambel und den Allgemeinen Grundsätzen des Art. 2 wieder, während die deutsch-französische Auslegung nur auf das innere System der Einzelregelungen der Richtlinie verweisen kann (vgl. Kapitel 1).
Tz. 79
Zwei Regierungsentwürfe eines deutschen Umsetzungsgesetzes der Jahresabschlussrichtlinie v. 10.2.1982 und v. 26.8.1983 sahen eine überschießende Umsetzung der Bilanzierungsgrundsätze der Richtlinie für alle Kaufleute vor. Die Bundesregierung glaubte damit an eine deutsche rechtsformneutrale Handelsbilanzrechtstradition anzuknüpfen, die für alle Kaufleute durch das Bilanzrecht der Aktiengesellschaften geprägt gewesen sein soll. Mit der rechtsformneutralen Umsetzung der Richtlinie hätten mit dieser Sichtweise sogar Bilanzierungserleichterungen eingeführt werden sollen. Der Vorzug einer einheitlichen Umsetzung gegenüber einer isolierten Reformulierung der Bilanzierungsgrundsätze des Aktienrechts und des GmbH-Rechts wurde von der Bundesregierung auch darin gesehen, Rechtsunsicherheiten hinsichtlich der Bedeutung solcher rechtsformspezifischen Bilanzierungsgrundsätze für die GoB vermeiden zu können.
Tz. 80
Der Rechtsausschuss des Bundestages verwarf diesen einheitlichen Ansatz. Ein eingesetzter Unterausschuss entwickelte den Vorschlag für die heute geltende Struktur des Dritten Abschnitts des HGB. Der Ausschuss ließ sich dabei zuvorderst von dem Ziel leiten, die Richtlinie nicht weiter als nötig umzusetzen. Zugleich strebte er die Aufteilung der Bilanzierungsvorschriften in einen allgemeinen Teil an, der die Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung für alle Kaufleute abbilden sollte. Die von der Jahresabschlussrichtlinie eingeforderten und über die bisherigen GoB hinausgehenden rechtsformspezifische Bilanzierungsvorschriften wurden in einen besonderen Teil aufgenommen, der keine allgemeinen GoB enthalten sollte.
Tz. 81
Der ebenfalls erst durch den Rechtsausschuss in der bis heute geltenden Fassung formulierte § 243 HGB enthält nach der Begründung der Beschlussempfehlung nur einen deklaratorischen Verweis auf die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung. Die Vorschrift des § 243 HGB sollte damit auch die Regelung des § 149 Abs. 1 AktG 1965 in sich aufnehmen, die für den Jahresabschluss einen möglichst sicheren Einblick in die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage vorgeschrieben hatte. Den geltenden § 264 Abs. 2 HGB übernahm der Rechtsausschuss unverändert aus den insoweit identischen Regierungsentwürfen, beschränkte dessen Anwendungsbereich aber durch eine andere systematische Stellung auf den Jahresabschluss der Kapitalgesellschaften. Die Regierungsbegründung betonte für diese Vorschrift einerseits die aus der Richtlinie folgende Regelungsnotwendigkeit eines richtlinienkonformen Einblicksgebots, spielte andererseits aber deren Bedeutung als Generalklausel herab.
Tz. 82
Die §§ 243 und 264 Abs. 2 Satz 1 und 2 HGB sind wie vom Rechtsausschuss empfohlen Gesetz geworden und gelten seither unverändert. Die Sätze 3–5 des § 264 Abs. 2 HGB sind durch das Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetz (MicroBilG ) v. 20.12.2012 eingefügt worden.
Die gem. § 244 HGB geregelte...