Dr. Thilo Schülke, Steve Scheffel
Tz. 471
Eine private Veranlassung scheidet für die Bildung von Rückstellungen ungewisser Verbindlichkeiten aus. Dieser Grundsatz ist in erster Linie für Personengesellschaften von Relevanz.
Bei Verträgen ist im Rahmen des schuldrechtlichen Synallagmas zu prüfen, inwieweit eine wirtschaftliche Belastung des bilanzierenden Unternehmens zum Bilanzstichtag überhaupt besteht (Vermögenslastprinzip). Die Aufwendungen dürfen daher nicht aktivierungsfähig sein, da in diesem Fall (Vermögensmehrung durch Aktivierung) im Saldo keine wirtschaftliche Belastung beim bilanzierenden Unternehmen entsteht.
Tz. 472
Die Verpflichtung kann schuldrechtlich, öffentlich-rechtlich oder auch nur faktisch verursacht sein. Bei einer faktischen Verursachung kann sich das Unternehmen der Verpflichtung nicht entziehen, obwohl die Verpflichtung rechtlich nicht besteht. Es liegt demnach mindestens eine fiktive Verpflichtung gegenüber Dritten vor (Außenverpflichtung). Hiervon sind reine Innenverpflichtungen (Aufwandsrückstellungen; vgl. Tz. 464) abzugrenzen. Zuweilen bestehen sogar beide Arten von Verpflichtungen nebeneinander. Gleichwohl kann das Passivierungsverbot für Aufwandsrückstellungen eine Rückstellungbildung in solchen Fällen nicht unterbinden. Die diesbezügliche BFH-Rechtsprechung ist abzulehnen, da sie den wirtschaftlich begründeten Charakter der Verpflichtung verkennt.
BEISPIEL
Der Luxusuhrenhersteller Switch-Lamaire hat eine vertragliche Verpflichtung zur Erbringung von Garantien über fünf Jahre. Neben der vertraglichen Verpflichtung bewirbt das Unternehmen intensiv die Qualität der angebotenen Produkte. In der Werbung und beim Verkauf verspricht das Unternehmen eine lebenslange Garantie auf seine Produkte. Die Erfüllung der rechtlichen sowie faktischen Garantie entspricht dem Außenverpflichtungsprinzip. Bei Switch-Lamaire liegt sowohl eine äußere als auch eine innere Motivation für die Begleichung der Verpflichtung vor. Gleichwohl unterliegen Innenverpflichtungen einem Ansatzverbot. Eine Unterlassung der Rückstellungsbildung unter Heranziehung einer sogenannten "eigentlichen" Interessenlage i. S. e. Innenverpflichtung bzw. Aufwandsrückstellung kann nicht überzeugen.
Tz. 473
Entsprechend dem Verpflichtungscharakter von Verbindlichkeitsrückstellungen muss dem (aufgrund der allgemeinen Natur der Verpflichtung möglicherweise auch abstrakt zu bestimmenden) Gläubiger seinerseits das Recht zustehen, den Schuldner zu einer Aktivität oder zur Unterlassung einer Aktivität zwingen zu können. Steht die Entledigung von der Verpflichtung im Ermessen des Schuldners, begründet die derzeit bestehende Handlungs-/Unterlassungspflicht keine Rückstellung. Es liegt keine Unentziehbarkeit vor. Dementgegen besteht auch weiterhin noch die Pflicht zur Rückstellungsbildung, wenn etwa zivilrechtliche Ansprüche verjährt sind, der Schuldner jedoch eine Begleichung noch erwägt bzw. davon ausgeht.
Tz. 474
Zur Rückstellungsbildung muss der Gläubiger weder bekannt sein, noch Kenntnis von seinem Gläubigeranspruch besitzen. Daher können auch Verpflichtungen zu einer Rückstellung führen, die nicht vertraglich begründet und folglich nicht von Vertragsparteien genau bestimmt worden sind. Hierunter fällt auch die Verletzung anonymer Interessen. Speziell anzuführen sind Delikte oder Verletzungen von fremden Schutzrechten.
BEISPIEL
Die F-AG ist ein internationaler Nahrungsmittelhersteller. Die japanische Tochtergesellschaft J verletzt mit ihrer Walfangaktivität geltendes Recht. Auch wenn der Rechtsverstoß nicht gegenüber jemanden oder einer Institution kenntlich gemacht wurde, ist das Außenverpflichtungsprinzip erfüllt. Ein konkreter Gläubiger muss nicht bestehen. Es reicht aus, dass eine (irgendwie geartete) internationale Öffentlichkeit in Folge des Verstoßes, die Einhaltung der Vorschriften durchsetzen kann.
Tz. 475
Die Außenverpflichtung konkretisiert sich i. d. R. anhand einer zivilrechtlichen Verpflichtung, etwa aufgrund eines Kauf- oder Gesellschaftsvertrags. Eine öffentlich rechtliche Verpflichtung hingegen basiert auf Verwaltungsakten oder gesetzlichen Verpflichtungen. Sie liegt handelsrechtlich vor, wenn gesetzliche Vorschriften bestehen, die zu einer Verpflichtung beim bilanzierenden Unternehmen führen und Aufwand zur Erfüllung der Verpflichtung verursachen. Allgemeine (z. B. verfassungsrechtliche) Grundsätze sind als öffentlich-rechtliche Verpflichtung nicht hinreichend konkretisiert und scheiden folglich als Rückstellungsgrund aus. Klassische öffentlich-rechtliche Verpflichtungen bilden u. a. folgende Sachverhalte:
- Altlastensanierungen
- Instandhaltungspflichten
- Entfernungspflichten
- Prüfungspflichten (gesetzliche Jahresabschlussprüfung)
Für eine Rückstellung öffentlich-rechtlicher Verpflichtungen ist die Frage der schuldrechtlichen Begründung unerheblich. Die Bildung einer Rückstellung für Jahresabschlusskosten ist daher auch insoweit geboten, wie die Jahresabschlusskosten durch eigene Mitarbeiter verursacht werden.
Tz. 476
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