Dr. Thilo Schülke, Steve Scheffel
Tz. 452
Der Begriff der Rückstellung selbst wird im HGB nicht definiert. Im Schrifttum wird die zukünftige ungewisse wirtschaftliche Belastung (bestimmte zukünftige Mindereinnahmen oder Ausgaben) des Bilanzierenden am Stichtag als gemeinsames Merkmal herausgestellt. Orientierung bietet überdies der in § 249 HGB enthaltene abschließende Katalog von Rückstellungsarten (vgl. Tz. 447). Danach unterscheidet man zwischen
Tz. 453
Die Voraussetzungen der Bildung von Rückstellungen haben in einer Fülle richterlicher Urteile, insbesondere des Bundesfinanzhofs (BFH), in einer Vielzahl von Sachverhalten, in denen häufig die wirtschaftliche Verursachung von Belastungen umstritten war, weitestgehend Klärung erfahren. Dennoch bestehen zum Teil noch sehr unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich einzelner Aspekte (z. B. zum Zeitpunkt der Passivierung; vgl. Tz. 481).
In einigen Fällen führten die Urteile zu einer eingeschränkten Rückstellungsbildung, aufgrund eines weitergehenden Verständnisses des Realisationsprinzips im Zusammenhang mit der Zuordnung von Aufwendungen zu Erträgen als Kriterium für den Passivierungszeitpunkt (vgl. Tz. 482). Die dem Schrifttum zum Teil zu entnehmende Erweiterung des gesetzlichen Tatbestands um den sogenannten Erfüllungsrückstand bei schwebenden Dauerschuldverhältnissen ist nicht sachgerecht. Die sich an den Gesetzeswortlaut anlehnende Begrifflichkeit alleine begründet für diese Fälle nicht die Zulässigkeit einer Rückstellungsbildung.
BEISPIEL
K bestellt am 12. Dezember 01 Rohstoffe, welche am 30. Dezember 01 geliefert werden. Die Bezahlung erfolgt vertragsgemäß am 6. Januar 02. Das "schwebende Geschäft" im Sinne des § 249 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 HGB beginnt am 12. Dezember und resultiert am 30. Dezember in einem Erfüllungsrückstand, dieser stellt allerdings eine Lieferantenschuld und keine Rückstellung dar.
Tz. 454
Kennzeichen der Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten ist eine zum Stichtag bestehende Unsicherheit hinsichtlich des Grunds oder der Höhe einer ansonsten als Verbindlichkeit zu bilanzierenden Außenverpflichtung. Die Verbindlichkeit kann aus einem zivilrechtlich oder öffentlich-rechtlich begründeten Schuldverhältnis (mithin schuldrechtlich) begründet sein. Möglich ist aber auch eine unmittelbar aus einer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung resultierende Passivierungspflicht. Zu den ungewissen Verbindlichkeiten gehören auch die unmittelbaren Pensionsverpflichtungen.
Voraussetzung und Grundlage der Bildung einer Rückstellung für drohende Verluste ist hingegen die Existenz eines schwebenden Geschäfts, d. h. eines schuldrechtlich geschlossenen Vertrags mit zweiseitiger Verpflichtung, bei dem noch keine der Vertragsparteien ihre (Haupt-) Leistungspflicht erbracht hat, und für welches zum Bilanzstichtag die hieraus zu erwartenden Verluste die zu erwartenden Gewinne übertreffen (Bestehen eines Verpflichtungsüberschusses).
Für Gewährleistungen ohne rechtliche Verpflichtung schreibt der Gesetzgeber explizit die Bildung einer Rückstellung vor, sofern das bilanzierende Unternehmen faktisch eine gleichwohl bestehende Pflicht zur Erbringung von Gewährleistungen trifft. Rückstellungen dieser Art lassen sich als Ausprägung der Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten auffassen.
Rückstellungen für unterlassene Instandhaltungen und für Abraumbeseitigung können als (interne) Verpflichtungen gegenüber sich selbst aufgefasst werden (sog. Aufwandsrückstellungen). Aufwandsrückstellungen dienen der periodengerechten Abgrenzung unternehmensinterner Aufwendungen. Bei den Aufwandsrückstellungen gemäß § 249 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 HGB handelt es sich um speziell kodifizierte Ausnahmen von dem grundsätzlichen Bilanzierungsverbot für Aufwandsrückstellungen (vgl. Tz. 452).
Tz. 455
Der Rückstellungsbegriff steht im Spannungsverhältnis von statischer und dynamischer Bilanzauffassung. Die statische Auffassung verfolgt das Ziel der richtigen und vollständigen Erfassung von Vermögenswerten und (hier insbesondere) Schulden in der Bilanz zum Bilanzstichtag. Das Hauptaugenmerk liegt folglich in der Erfüllung der notwendigen Ansatzkriterien. Mit Ausnahme der Rückstellungen für Instandhaltung und Abraumbeseitigung resultieren die zuvor genannten Rückstellungen aus Verpflichtungen gegenüber externen Dritten (Außenverpflichtungscharakter). Sie lassen sich daher unter den durch § 247 Abs. 1 HGB geprägten Schuldbegriff subsumieren.
Tz. 456
Die dynamische Bilanzauffassung orientiert sich an der periodengerechten Gewinnermittlung und damit am Verursachungsprinzip. Die ...