Dr. Thilo Schülke, Steve Scheffel
Tz. 480
Die Rückstellung ist zu dem (früheren) Zeitpunkt zu bilden, an dem eine Verpflichtung wirtschaftlich verursacht oder rechtlich entstanden ist ("BFH-Doppelkriterium").
Der Zeitpunkt der Fälligkeit der im Rahmen der bestehenden Außenverpflichtung zu erbringenden Leistungen ist hingegen unbeachtlich.
Tz. 481
Der Zeitpunkt der rechtlichen Entstehung ist bei privat-rechtlichen oder öffentlich-rechtlichen Verträgen regelmäßig einfach zu bestimmen. Abstrakt kommt es zur rechtlichen Entstehung, wenn alle Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, die zur Begründung der Verpflichtung notwendig sind. Die Bilanzierung erfolgt unabhängig von der Zuordnung zugehöriger Erträge (kein matching principle).
Die wirtschaftliche Verursachung beruft sich auf das Verursachungsprinzip (dynamische Bilanztheorie; vgl. Tz. 456). Der Ansatz der Rückstellung geht in die Ursprungsperiode der wirtschaftlichen Belastung zurück. Eine explizite Definition der wirtschaftlichen Verursachung fehlt, daher gibt es zwei Ausprägungen des Prinzips. Der BFH legt die wirtschaftliche Verursachung unabhängig vom Zeitpunkt der Entstehung der mit den Aufwendungen zusammenhängenden zuordenbaren Erträgen aus. Diese liegt demzufolge bereits dann vor, wenn
- die Verpflichtung in der Berichtsperiode im Wesentlichen begründet wurde und
- die Entstehung der Verbindlichkeit nur noch von unwesentlichen Tatsachen abhängt.
Der alternativen Auffassung folgend ist Voraussetzung für die Erfassung wirtschaftlich bereits verursachter Aufwendungen, dass die Gegenleistung realisiert wurde bzw. keine Gegenleistung zuordenbar ist (matching principle).
Aufwendung |
Bilanzierung |
Alimentiert bestimmte Gegenleistung |
Keine Rückstellungsbildung |
Alimentiert keine bestimmte Gegenleistung |
Rückstellungsbildung |
Alternative Interpretation der wirtschaftlichen Verursachung von Rückstellungen
Hinsichtlich des BFH-Doppelkriteriums (vgl. Tz. 480) wird vielfach die definitorische Unschärfe der wirtschaftlichen Verursachung kritisiert. Insbesondere das Kriterium der wirtschaftlich unwesentlichen Tatbestandsmerkmale erfordert eine fallweise Auslegung. Die in Ermangelung klarer Anwendungsleitlinien entstehenden Beurteilungsspielräume führen zu konzeptionell unbefriedigenden Ergebnissen.
Tz. 482
Sofern die rechtliche Verpflichtung und die wirtschaftliche Verursachung auseinanderfallen, ist auf den früheren der beiden Zeitpunkte abzustellen (vgl. Tz. 480). Unter Umständen geht die rechtliche Verpflichtung der wirtschaftlichen Verursachung zeitlich voraus, wobei Teile des Schrifttums eine Rückstellungsbildung unter Durchbrechung des Vollständigkeitsprinzips verneinen, sofern der Aufwand zukünftigen Erträgen zugeordnet werden kann. Im Sinne des Vorsichtsprinzips setzt dies aber auch ein hochwahrscheinliches Auftreten der zukünftigen zuzuordnenden Erträge voraus. I. d. R. wird diese wirtschaftliche Betrachtungsweise zu Gunsten eines umfassenden Rückstellungsansatzes verworfen, da im Normalfall eine Unterscheidung zwischen zuzuordnenden Erträgen und allgemeinen, nicht auf die früheren Aufwendungen bezogenen Erträgen kaum gelingt.
Tz. 483
Im Spannungsfeld rechtlicher Verpflichtung und wirtschaftlicher Verursachung sowie unter Maßgabe eines vorrangigen Rückstellungsansatzes ergeben sich besondere Schwierigkeiten bei der Rückstellungsbildung u. a. im Fall von Rückbau- oder Umweltschutzverpflichtungen. Charakteristisch für die Bildung von sog. Ansammlungs-/Verteilungsrückstellungen ist eine Diskrepanz zwischen rechtlicher Verpflichtung einerseits und wirtschaftlicher Verursachung andererseits dergestalt, dass sich die wirtschaftliche Verursachung der Rückstellung über einen Zeitraum nach dem Abschlussstichtag erstreckt.
Das Kardinalbeispiel stellen Entsorgungskosten für Kernbrennstäbe dar. Dieser Problemkreis wurde in der Vergangenheit bereits ausgedehnt debattiert. Die rechtliche Vollentstehung der Verpflichtung ergibt sich nach erstmaliger Bestrahlung der Kernbrennelemente (gem. Vollständigkeitsgebot), die wirtschaftliche Belastung verteilt sich jedoch auf die Folgeperioden. Problematischer Weise führt die Rückstellung in voller Höhe zu einem Aufwand bei Betriebsbeginn, der die Erstjahresgewinne, sofern solche bestehen, um ein Vielfaches übersteigen würde.
Tz. 484
Zur Lösung der vorstehenden Problematik wird das Vollständigkeitsgebot zugunsten einer Kompensation der Höhe nach durchbrochen. Das vorhandene Prinzipieninstrumentarium wird hierfür modifiziert, so wird dem matching principle eine rückstellungsbegrenzende Wirkung zugewiesen, indem Rückstellungen nur Zug um Zug mit den Erträgen gebildet werden, die sie alimentieren.
Dabei verlagert sich die Konsequenz des Realisationsprinzips von der Ansatz- auf die Bewertungsebene, dass Aufwendungen nur insoweit (der Höhe nach) erfasst werden, als sie in irgendeiner Weise Erträge der Periode alimentieren (Verteilungsrückstellung). Eine verzögerte Erfassung zum Bilanzstichtag grundsätzlich schon bestehender rechtl...