Dr. Thilo Schülke, Steve Scheffel
Tz. 486
Konstituierendes Moment einer Rückstellung ist die Unsicherheit, in Abgrenzung gegenüber einer Verbindlichkeit (Inanspruchnahme bzw. Höhe) sowie auch in Abgrenzung gegenüber einer Nichtbilanzierung. Im Kern besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der subjektiven Beurteilung der Unsicherheit, eventuell aus bilanzpolitischen Gründen, und der erforderlichen Objektivierung zum Bilanzstichtag, wie der BFH sie fordert.
Tz. 487
Voraussetzung für die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten ist neben dem Bestehen einer ungewissen Verbindlichkeit, dass mit der Möglichkeit einer Inanspruchnahme zum Bilanzstichtag in der veranschlagten Höhe ernsthaft zu rechnen ist. Ohne diese Einschränkung wäre eine ungehinderte Reservenbildung möglich.
Zumeist wird die Frage des Bestehens der Schuld und der Inanspruchnahme synonym betrachtet und keine Unterscheidung getroffen. Allerdings handelt es sich um verschiedene Problemstellungen hinsichtlich
- der Unklarheit, ob eine Verpflichtung überhaupt besteht und
- der Unklarheit bezüglich einer Inanspruchnahme aus der Verpflichtung.
BEISPIEL
Die S-AG ist eine deutschlandweit agierende Autovermietung. S ist für die eine oder andere provokative Werbeaktion bekannt. Zur Bewerbung eines Weekend Specials wird das Bild einer ranghohen Politikerin in einem witzig provokativen Kontext verwendet. Die Politikerin M klagt gegen die Verbreitung der Werbung. Zum Klagezeitpunkt ist unklar, ob
- gegen die Persönlichkeitsrechte der M verstoßen wurde und
- S Schadensersatz zahlen muss.
Unter Umständen liegt keine Verpflichtung auf Seiten der S vor, die Werbung zu unterlassen bzw. hat S gar nicht schuldhaft gehandelt. Gerade diese Frage ist expliziter Gegenstand der Gerichtsverhandlung. In diesem Fall wäre bereits das Bestehen zu verneinen. Läge eine Persönlichkeitsverletzung vor, wäre zwar die Schuldfrage geklärt, ohne dass diese aber, aufgrund der ermessensbehafteten Entscheidung des Gerichts, zwangsläufig zu einem Schadensersatz führen müsste. Mithin könnte auch die Einstellung der Werbung für das Gericht ausreichend sein oder M könnte gar kein Interesse haben, Schadensersatz zu beanspruchen.
Tz. 488
Der Begriff "ernsthaft" ist vorsichtig auszulegen. Die Auslegung der ernsthaften Inanspruchnahme wird im Schrifttum kontrovers diskutiert. Eine Quantifizierung als Mindestwahrscheinlichkeit für die Inanspruchnahme (51 %) wird ebenso vertreten wie eine Negativabgrenzung i. S. e. Grundvermutung der Inanspruchnahme. Die Gründe für das Bestehen einer Verpflichtung sollten weitestmöglich (z. B. durch Einholung von Expertenmeinungen) objektiviert werden.
Jedweder Versuch einer Quantifizierung mündet nicht in einer objektiven Darstellung der Verbindlichkeitslage, sondern resultiert letztlich in einer Scheinquantifizierung. Im Übrigen verhindert auch eine qualitative Abwägung der "mehr oder weniger guten" Gründe bzgl. des Bestehens einer Verpflichtung letztlich keine subjektive Einschätzung des Bilanzierenden. Zuletzt steht wiederum die Berufung auf das Wissen und die Vernunft des Kaufmanns im Vordergrund. Am Ende bleibt nur die Einengung der gestalterischen Bilanzierungsfreiheit des Kaufmanns durch intersubjektive Nachprüfbarkeit. Warum sollte der Kaufmann mit einer Verbindlichkeit nicht rechnen bzw. rechnen, wenn sachverständige Dritte davon ausgehen bzw. nicht ausgehen sollten?
Tz. 489
Ein wahrscheinliches Bestehen einer Verpflichtung ist dann nicht gegeben, wenn die Wahrscheinlichkeit der Einforderung der Verpflichtung nicht besteht. Insofern gilt die Volksweisheit: "Wo kein Kläger, da kein Richter". Es müssen demnach gute Gründe vorliegen, dass der (gegebenenfalls abstrakt zu bestimmende) Anspruchsberechtigte von dem Anspruch weiß oder davon später Kenntnis erlangen wird. Die Kenntnis des Anspruchshalters zum Bilanzstichtag ist indessen nicht erforderlich, da nicht der Zeitpunkt der Entdeckung z. B. einer Deliktshandlung des bilanzierenden Unternehmens, sondern die Entdeckung der Handlung selbst entscheidend ist.