Dr. Thilo Schülke, Prof. Dr. Heribert Anzinger
Tz. 57
Die Zielsetzung der IFRS, entscheidungserhebliche Informationen zu vermitteln (decision usefulness, relevance, CF.QC6, vgl. Kapitel 4) und die qualitativen Anforderungen der Rechnungslegungsgrundsätze der IFRS (qualitative characteristics), Vergleichbarkeit (comparability, CF.QC20, vgl. Kapitel 4), Verlässlichkeit (reliability, verifiability, CF.QC26, vgl. Kapitel 4), Gegenwartsnähe (timeliness, CF.QC29, vgl. Kapitel 4), Verständlichkeit (understainability, CF.QC30, vgl. Kapitel 4) und Wirtschaftlichkeit (cost constraint, CF.QC35, vgl. Kapitel 4) setzen sich in den Anforderungen an die Bewertungsmaßstäbe fort. Sie stehen dort in einem Spannungsverhältnis, in dessen Zentrum die Gewichtung und das Verständnis des Neutralitäts- und des Sorgfaltsgebots als Vorsichtsprinzip (vgl. Tz. 69) stehen. In der Frage, ob die IFRS ein Vorsichtsprinzip kennen oder einem solchen zugänglich sind, treffen unterschiedliche Vorverständnisse des Vorsichtsprinzips, nicht notwendig unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe aufeinander. Im Rahmenkonzept des IASB 2010 ist das Vorsichtsprinzip zwar begrifflich gestrichen worden, weil ein Teil des IASB damit eine Verletzung des Neutralitätsgebots verband (vgl. Tz. 69). Nach ED/2015/3 soll das Vorsichtsprinzip, seit jeher verstanden als Sorgfaltsgebot (prudence principle), der ebenso eine Über- wie eine Unterbewertung verbietet, aber wieder in das Rahmenkonzept aufgenommen werden.
Das eigentliche Spannungsverhältnis besteht in den IFRS nicht zwischen Sorgfalts- und Neutralitätsprinzip, sondern in der Optimierung der Entscheidungsnützlichkeit (decision usefullness). Entscheidungsnützlich sind gegenwärtige (timeliness, CF.QC29) und intersubjektiv nachvollziehbar (verifiable, CF.QC26) verlässliche Werte. Intersubjektiv nachvollziehbar sind Werte, die auf bekannten Methoden beruhen, die keine subjektiven Einschätzungsspielräume enthalten und zu wiederholbaren Ergebnissen führen. Diese Anforderungen erfüllt vollständig das einfache Wertkonzept der Historischen (Anschaffungs- oder Herstellungs-)Kosten (historical costs). Historische Anschaffungs- oder Herstellungskosten spiegeln aber nicht notwendig den Gegenwartswert und vermitteln in dem Maß, in dem sie durch stille Reserven und stille Lasten vom Gegenwartswert abweichen, keinen entscheidungsnützlichen Einblick (true and fair view) in die Vermögensverhältnisse der Gesellschaft.
Vor diesem Hintergrund sehen die IFRS folgerichtig wie die handelsrechtlichen GoB auch eine Bewertung abweichend von den historischen Kosten vor, anders als die Rechungslegungsgrundsätze des HGB aber nicht nur mit dem niedrigeren beizulegenden Wert, sondern auch mit dem höheren Zeitwert (current value). Einer Bewertung zum Marktwert (fair value), zum Nutzungswert (value in use) oder mit dem Erfüllungsbetrag (fulfilment value) liegt notwendig eine Prognose und eine Schätzung zugrunde. Je größer die Prognose- und Schätzungsspielräume sind, desto unsicherer wird der dargestellte Wert. Vorsichts-, Sorgfalts- und Neutralitätsgebote sind daher in den IFRS als Optimierungsgebote zu verstehen, die in den einzelnen Standards konkretisiert und bei deren Anwendung zu befolgen sind.
Neben der Verlässlichkeit und der Gegenwartsnähe ist in die Optimierung der Bewertung die Wirtschaftlichkeit der Bewertung (CF.QC 35–.QC39, vgl. Kapitel 4) als weiterer übergeordneter Bewertungsmaßstab einzubeziehen. Die Bewertung mit den historischen Kosten erscheint wiederum nicht nur als die verlässlichste, sondern auch als günstigste Bewertungsmethode. Mit der Entfernung von liquiden Märkten und der Suche nach verlässlichen Nutzungswerten und Erfüllungsbeträgen steigen die Kosten der Bewertung. Für komplexe mathematische Bewertungsmodelle (mark-to-model), die auf Daten weiterer Modelle, statistisch aufbereiteten Datensätzen, Prognosen und Schätzungen beruhen, können diese Kosten einen wesentlichen Bewertungsnachteil darstellen. Dieser Bewertungsnachteil ist bei der Entwicklung und Anwendung der Standards zu rechtfertigen und setzt der Anwendung komplexer Bewertungsmodelle in den IFRS Grenzen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet die Anwendung der wirtschaftlichsten Methode, mit der sich die Ziele der Bewertung, Verlässlichkeit und Gegenwartsnähe noch verwirklichen lassen. Er erfordert, wie der Rechnungslegungsgrundsatz der Wirtschaftslichkeit, eine Abwägung zwischen dem Grad der Zielerreichung und den Mitteln. Diese Abwägung kann im Einzelfall ergeben, dass die beste Methode unzumutbar ist. Als Element des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist das Gebot der Wirtschaftlickeit für den privaten Standardsetzer nicht disponibel. Mit der Einbindung der IFRS in das Unionsrecht und mit dem staatlich vermittelten Zwang ihrer Anwendung, wirkt der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf die Auslegung und Anwendung der Standards zurück.