Dr. Thilo Schülke, Prof. Dr. Heribert Anzinger
Tz. 56
Die Wertkonzeption bildet im Schrifttum einen Schwerpunkt der rechtspolitischen Kritik an den IFRS. Diese Kritik bezieht sich zum einen auf die Regelungstechnik und zum anderen auf den Stellenwert des beizulegenden Zeitwerts für die Folgebewertung.
In der Wertkonzeption zeigen sich die Nachteile der sachverhaltssegmentierten Regelungstechnik der IFRS besonders deutlich. In der unsystematisch gewachsenen Aneinanderreihung von Bilanzierungsvorschriften für Vorräte, Sachanlagen, Öffentliche Zuschüsse, Finanzierungskosten, Immaterielle Werte, Finanzielle Vermögenswerte, Immobilien und landwirtschaftliche Produkte, leben geschlossene Bewertungssysteme gleichsam wie souveräne Kleinstaaten jeweils in einer eigenen Bewertungswelt. Das geltende Rahmenkonzept enthält für die Bewertung kein wirksames Leitbild. Das hat insbesondere für den beizulegenden Zeitwert zu einer teilweise widersprüchlichen Begriffsvielfalt geführt, der in den verschiedenen Standards mit inkongruenten Definitionen geregelt war. Mit dem im Mai 2011 verabschiedeten IFRS 13 ist für alle Geschäftsjahre ab 2013 zumindest für diesen Begriff des beizulegenden Zeitwerts eine Vereinheitlichung erzielt worden. Das lässt auf eine Entwicklung hoffen, an deren Ende die Wertbegriffe der IFRS geschlossen und standardübergreifend vor der Klammer geregelt sein sollten.
Ein zweiter Hauptkritikpunkt des Schrifttums an der Bewertungskonzeption der IFRS bezieht sich auf die Bedeutung und Konzeption des beizulegenden Zeitwerts. Die Wertkonzeption der IFRS beruhte ursprünglich grundsätzlich auf dem Anschaffungskostenmodell. Selbst das geltende Rahmenkonzept erwähnt im Leitbild der Bewertung in CF.4.54–.4.56 IASB 2010 noch nicht das Wertkonzept des beizulegenden Zeitwerts. Erst in den 1990er Jahren ist vom IASB eine Entwicklung aus den USA in der Standardentwicklung aufgegriffen worden, die dem beizulegenden Zeitwert einen größeren Stellenwert bei der Folgebewertung beimisst und dabei insbesondere auch eine Höherbewertung als zu historischen Anschaffungs- und Herstellungskosten erlaubt. Dem liegt eine "Rechnungslegungsphilosophie" (Hoffmann) zugrunde, nach der die Rechnungslegung eine gegliederte Unternehmensbewertung darstellen sollte. Einen Wendepunkt in diese Richtung stellte die Veröffentlichung von IAS 39 im März 1999 dar. Der beizulegende Zeitwert bildet die tatsächlichen Vermögensverhältnisse am Bilanzstichtag marktnäher ab und vermeidet die Nichtdarstellung stiller Bewertungsreserven. Er ist der Bewertung zu fortgeführten Anschaffungs- und Herstellungskosten bezogen auf die Ziele des IFRS-Abschlusses überlegen, wenn eine marktnahe Bewertung sinnvoll ist und wenn er verlässlich bestimmt werden kann. An diesen beiden Punkten setzt die Kritik im Schrifttum an. Gegen den Bewertungsmaßstab des beizulegenden Zeitwerts wird eingewandt, dass eine marktnahe Bewertung nicht für alle Vermögenswerte sinnvoll ist, nicht die Informationsinteressen aller Abschlussadressaten gleichermaßen berücksichtige und der beizulegende Zeitwert häufig nicht hinreichend verlässlich und nachprüfbar ermittelt werden können. Im historischen Kontext der Banken- und Staatsschuldenkrise ab 2007 werden zudem die Fehlanreize der Fair-Value-Bilanzierung für die Ausschüttungspolitik hervorgehoben. Im Zentrum der Kritik steht dabei zum einen die empirisch wahrgenommene Beliebigkeit des Wertausweises, weil im Regelfall Marktwerte nicht aus Markttransaktionen ermittelt werden können, sondern ein fiktiver Marktpreis aus theoretischen Marktmodellen abgeleitet werden muss. Für die mit den verschiedenen Wertermittlungsmodellen verbundenen Prognose- und Schätzungsunsicherheiten konnten empirisch erhebliche Bewertungsspielräume nachgewiesen werden. Zum anderen wird im Schrifttum eingewandt, die Volatilität der Bewertungskonzeption der IFRS führe zu volkswirtschaftlich schädlichen Wechselwirkungen zwischen der Marktentwicklung und der Finanzberichterstattung der Unternehmen. Von den Verfechtern der marktwertnahen Bewertung zum beizulegenden Zeitwert wird entgegnet, dass die Fair-Value-Bilanzierung die Finanzkrise nicht verursacht, sondern nur aufgedeckt habe. Methodischen Mängeln sei zu begegnen, die zeitwertorientierte Bilanzierung für bestimmte Vermögenswerte aber gleichwohl der Bewertung zu fortgeführten Anschaffungskosten überlegen. Diese vermittelnde Auffassung ist vor dem Hintergrund der durch das IASB formulierten Ziele der IFRS überzeugend. Ein reines Anschaffungskostenmodell passt nicht zu einem Rechnungslegungswerk, dessen einziger Zweck die Information kapitalmarktorientierter sachverständiger Eigen- und Fremdkapitalgeber ist. Zugleich ist ein Wertkonzept, das so erhebliche Bewertungsunsicherheiten enthält, dass die abgebildeten Werte vereinzelt beliebig erscheinen können, mit den Grundsätzen der Verlässlichkeit und Nachprüfbarkeit...