Dr. Thilo Schülke, Prof. Dr. Heribert Anzinger
Tz. 69
Die IFRS enthalten ein dem handelsrechtlichen Vorsichtsprinzip vergleichbares, wenngleich anders akzentuiertes Prinzip der objektiven Wertermittlung in den Bewertungsgrundsätzen der Verlässlichkeit und Neutralität (CF.QC12 und IAS 1.29 ff.), der Vergleichbarkeit (CF.QC20) und der Nachprüfbarkeit (CF.QC26). Diesen Grundsätzen steht im Bewertungssystem der IFRS aber mit größerem Gewicht als in den handelsrechtlichen GoB das Ziel gegenüber, die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend darzustellen. Den Ausgleich zwischen den Grundsätzen der Verlässlichkeit, Vergleichbarkeit und Nachprüfbarkeit einerseits und dem Ziel der Darstellung der zutreffenden Wertprognose andererseits, regeln die IFRS nicht allgemein, sondern in den einzelnen Standards sachgebietsbezogen.
Umstritten ist, ob die formale Aufgabe des in F.37 IASC (1989) verankerten Vorsichtsprinzips (prudence principle) im 2010 neu veröffentlichten Teil des Rahmenkonzepts (vgl. Kapitel 4) sich auf die Bewertungsregeln der einzelnen Standards auswirkt. Das ist nicht der Fall. F.37 IASC (1989) enthielt nur einen Sorgfaltsmaßstab. Das Rahmenkonzept von 1989 formulierte damit nicht das Prinzip einer Bewertung nach der pessimistischsten Annahme, sondern das Gebot einer realistisch verlässlichen Bewertung. Dem IASB schien allein der Begriff des Vorsichtsprinzips missverständlich. Wegen der Gefahr einer anderen als der in F.37 IASC (1989) vorgezeichneten Interpretation, die gegen den Grundsatz der Neutralität verstoßen würde, hat der Standardsetzer den Begriff der Vorsicht deshalb nicht in das neue Rahmenkonzept übernehmen wollen (vgl. CF.BC3.27 ff). Inhaltlich ist das bisherige Verständnis des Vorsichtsprinzips im Conceptual Framework 2010 in den Grundsätzen der Verlässlichkeit, Neutralität, Vergleichbarkeit und Nachprüfbarkeit aufgegangen.
Die Bewertungsvorschriften für Vermögenswerte des Vorrats- und Sachanlagevermögens und für immaterielle Vermögenswerte sehen in IAS 2.9, 16.30 und 38.74 eine Bewertung nach dem Anschaffungskostenprinzip vor. Bei der Bewertung räumen die IFRS für diese Vermögenswerte einer verlässlichen Bewertung den Vorrang vor einem am Bilanzstichtag u. U. zutreffenderen höheren beizulegenden Zeitwert ein. Das Anschaffungskostenprinzip sieht die fortgeschriebenen historischen Anschaffungskosten als Höchstwert und eine niedrigere Bewertung zum beizulegenden Zeitwert und damit eine imparitätische Bewertung vor. Mit dem Anschaffungskostenprinzip verbunden sind die, die IFRS prägenden, Prinzipien der Realisation und Imparität (vgl. Kapitel 4).
In den Fällen, in denen andere Bewertungsmaßstäbe hinreichend objektive, verlässliche und nachprüfbare Werte ergeben und eine höhere Aussagekraft der Abschlussinformationen ermöglichen, sehen die IFRS diese Bewertungsmaßstäbe vor. Deshalb können etwa zu Handelszwecken gehaltene Finanzinstrumente und Verbindlichkeiten, sowie Immobilien zum beizulegenden Zeitwert anzusetzen sein. Das gilt auch dann, wenn die historischen Anschaffungs- und Herstellungskosten überschritten werden. Soweit dadurch unrealisierte Wertsteigerungen ausgewiesen werden, treten das Realisations- und das Imparitätsprinzip hinter das Ziel einer den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zurück.
Schätzungsspielräume bei der Bewertung dürfen nach den IFRS nicht mit dem niedrigsten Wert, sondern müssen mit dem wahrscheinlichsten (best estimate) Wert ausgefüllt werden. Darin wird häufig ein Unterschied der IFRS zur stärkeren Ausprägung des Vorsichtsprinzips in den handelsrechtlichen GoB erkannt. Auch handelsrechtlich dürfen Schätzungsspielräume aber nicht zum Ausweis des niedrigsten denkbaren Werts für einen Vermögenswert oder des höchstmöglichen Werts für eine Schuld führen.
Tz. 70
Das Impäritätsprinzip steht im Widerspruch zu den im Rahmenkonzept formulierten Sorgfalts- und Neutralitätsgeboten der IFRS. Selbst wenn in deutscher Übersetzung des prudence principle das Vorsichtsprinzip wieder Einzug in das Rahmenkonzept hält (vgl. Tz. 57), erlaubt es im System der IFRS keinen Bias der Bewertung. Gleichwohl finden sich in einzelnen Standards Ausprägungen eines Imparitätsprinzips in den IFRS. IAS 37 differenziert in den Ansatzvoraussetzungen zwischen Aktivierung und Passivierung und setzt die Schwelle für die Passivierung von Schulden niedriger als für die Aktivierungs von Vermögensgegenständen. Nach IAS 37.28 sind Eventualverbindlichkeiten und Rückstellungen zu passivieren, wenn der Abfluss von Ressourcen mit wirtschaftlichem Nutzen nicht unwahrscheinlich ist (possibility ... is remote). Demgegenüber sind nach IAS 37.33 Eventualforderungen nur dann anzusetzen, wenn die Erträge "so gut wie sicher" (virtually certain) sind. IAS 11.32 enthält einen unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab für die Berücksichtigung von Erlösen und Kosten bei d...