Tz. 69

Die IFRS enthalten ein dem handelsrechtlichen Vorsichtsprinzip vergleichbares, wenngleich an­ders akzen­tuiertes[181] Prinzip der ob­jektiven Wertermittlung in den Bewertungsgrundsätzen der Ver­lässlichkeit und Neutralität (CF.QC12 und IAS 1.29 ff.), der Vergleichbarkeit (CF.QC20) und der Nachprüfbarkeit (CF.QC26). Diesen Grundsätzen steht im Bewertungssystem der IFRS aber mit größerem Gewicht als in den handelsrechtlichen GoB das Ziel gegenüber, die Ver­mögens-, Finanz- und Ertragslage den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend dar­zu­stellen. Den Ausgleich zwischen den Grund­sätzen der Verläss­lichkeit, Vergleichbarkeit und Nachprüfbarkeit einerseits und dem Ziel der Darstellung der zu­tref­fenden Wertprognose an­der­erseits, regeln die IFRS nicht allgemein, sondern in den einzelnen Stan­dards sachgebiets­be­zogen.[182]

Umstritten ist, ob die formale Aufgabe des in F.37 IASC (1989) verankerten Vorsichts­prin­zips (prudence principle) im 2010 neu veröffentlichten Teil des Rahmenkonzepts (vgl. Kapitel 4) sich auf die Bewertungsregeln der einzelnen Standards auswirkt.[183] Das ist nicht der Fall. F.37 IASC (1989) enthielt nur einen Sorgfaltsmaßstab. Das Rahmenkonzept von 1989 formulierte da­mit nicht das Prinzip einer Bewertung nach der pes­simistischsten Annahme, sondern das Gebot einer realistisch ver­lässlichen Bewertung. Dem IASB schien allein der Begriff des Vorsichts­prin­zips missverständlich. Wegen der Ge­fahr einer anderen als der in F.37 IASC (1989) vorge­zeichneten Interpretation, die gegen den Grundsatz der Neutralität verstoßen würde, hat der Stan­dardsetzer den Begriff der Vorsicht deshalb nicht in das neue Rahmenkonzept über­ne­hmen wollen (vgl. CF.BC3.27 ff). Inhaltlich ist das bisherige Ver­ständnis des Vor­sichtsprinzips im Conceptual Framework 2010 in den Grund­sätzen der Ver­lässlichkeit, Neutralität, Ver­gleich­barkeit und Nachprüfbarkeit aufge­gangen.

Die Bewer­tungsvor­schriften für Ver­mögenswerte des Vor­rats­- und Sachanlagevermögens und für immaterielle Ver­mögenswerte sehen in IAS 2.9, 16.30 und 38.74 eine Bewertung nach dem An­schaf­fungs­kos­ten­prin­zip vor. Bei der Bewertung räumen die IFRS für diese Ver­mögens­werte einer verlässlichen Bewertung den Vorrang vor ei­nem am Bilanzstichtag u. U. zutreffenderen höheren beizulegenden Zeitwert ein. Das Anschaffungskostenprinzip sieht die fortgeschriebenen historischen Anschaffungskosten als Höchstwert und eine niedrigere Bewertung zum beizulegenden Zeitwert und damit eine imparitätische Bewertung vor. Mit dem Anschaffungskostenprinzip verbunden sind die, die IFRS prägenden, Prinzipien der Realisation und Im­parität (vgl. Kapitel 4).

In den Fällen, in denen andere Bewertungsmaßstäbe hinreichend objektive, verlässliche und nachprüfbare Werte ergeben und eine höhere Aussagekraft der Abschluss­infor­matio­nen ermöglichen, sehen die IFRS diese Bewertungsmaßstäbe vor. Deshalb können etwa zu Han­delszwecken gehaltene Finanz­instrumente und Verbindlichkeiten, sowie Immobilien zum bei­zulegenden Zeitwert anzusetzen sein.[184] Das gilt auch dann, wenn die historischen An­schaf­fungs- und Herstellungskosten überschritten werden. Soweit dadurch unrealisierte Wertstei­ge­rungen ausgewiesen werden, treten das Realisations- und das Imparitätsprinzip hinter das Ziel einer den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zurück.

Schätzungs­spiel­räu­me bei der Bewertung dürfen nach den IFRS nicht mit dem niedrigsten Wert, sondern müs­sen mit dem wahrscheinlichsten (best estimate) Wert ausgefüllt werden.[185] Darin wird häufig ein Unterschied der IFRS zur stärkeren Ausprägung des Vorsichtsprinzips in den handelsrechtlichen GoB erkannt.[186] Auch handelsrechtlich dürfen Schätzungs­spiel­räume aber nicht zum Ausweis des nie­drigsten denkbaren Werts für einen Vermögenswert oder des höchstmöglichen Werts für eine Schuld führen.

 

Tz. 70

Das Impäritätsprinzip steht im Widerspruch zu den im Rahmenkonzept formulierten Sorgfalts- und Neutralitätsgeboten der IFRS. Selbst wenn in deutscher Übersetzung des prudence principle das Vorsichtsprinzip wieder Einzug in das Rahmenkonzept hält (vgl. Tz. 57), erlaubt es im System der IFRS keinen Bias der Bewertung. Gleichwohl finden sich in einzelnen Standards Aus­prä­gungen eines Imparitätsprinzips in den IFRS. IAS 37 differen­ziert in den Ansatzvoraus­setzungen zwischen Ak­tivierung und Passivierung und setzt die Schwelle für die Passivierung von Schulden niedriger als für die Aktivierungs von Vermögensgegenständen. Nach IAS 37.28 sind Eventual­ver­bindlichkeiten und Rückstellungen zu passivieren, wenn der Abfluss von Ressourcen mit wirtschaft­lichem Nutzen nicht unwahrscheinlich ist (possibility ... is remote). Demgegenüber sind nach IAS 37.33 Eventualfor­de­rungen nur dann anzusetzen, wenn die Erträge "so gut wie sicher" (virtually certain) sind. IAS 11.32 enthält einen unterschiedlichen Wahrscheinlich­keits­maßstab für die Berück­sichtigung von Erlösen und Kosten bei d...

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